Die Sehnsucht der Konkubine
Himmels willen, ich …« Sie schüttelte ihr dunkles Haar, das wie eine düstere Masse um ihren Kopf wogte, und schritt energisch auf dem Gehsteig weiter.
Lydia wusste später nicht genau, was sie zu dem veranlasste, was sie jetzt tat. War es Wut? Verzweiflung? Schuldgefühle? Sie war sich nicht sicher, denn alle drei Gefühle brannten in ihr. Oder hatte Antoninas Zurechtweisung sie verärgert, und sie empfand das Bedürfnis, es ihr zurückzuzahlen? Jedenfalls genügte, als sie hinter ihrer Begleiterin herlief und ihren Arm streifte, um sie zum Umdrehen zu bewegen, nur eine einzige Sekunde, um das Armband aus der fellbesetzten Tasche zu angeln und in ihre eigene zu stecken.
»Ich werde ihn finden«, sagte Lydia zu ihr. Selbst für ihre eigenen Ohren klang das überraschend überzeugt.
Ein Automobil fuhr mit zischenden Reifen an ihnen vorbei und spritzte sie mit öligen Eissplittern voll. Lydia richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Antonina, auf die dunklen, tief eingesunkenen Augen mit den langen Wimpern und dem Ausdruck insgeheimer Verzweiflung. In diesem Moment sah Lydia eine Außenseiterin wie sich selbst, eine Frau, die noch nicht recht wusste, wohin ihr Weg sie führte.
»Ich werde dir helfen«, sagte Lydia drängend, »und du hilfst mir. Kriege aus Dmitri raus, wo das Gefängnis ist.«
»Ich werd’s versuchen.«
»Tu mehr, als es nur zu versuchen.«
»Ich glaube, er sagt es dir lieber selbst.«
»Ich habe ihn schon gefragt. Er hat Nein gesagt.«
»Und was tust du dafür für mich?«, fragte Antonina mit schwacher Stimme, als erwarte sie eine solche Freundlichkeit gar nicht für sich selbst.
»Ich werde Alexej finden. Ich versprech’s dir. Und ich werde dir sagen, wo er ist, sobald ich es weiß.«
Sie lächelten einander an, und eine kleine Welle der Erleichterung schien beide zu durchfluten. Ohne recht zu wissen, warum, empfanden beide in diesem Moment eine seltsame Verbindung zueinander. Lydia spürte, wie das Armband heiß an ihrer Hüfte glühte. Doch als Antonina ihre blassgraue Ledertasche öffnete, ein Bündel Rubelscheine herausnahm und sie Lydia in die Hand drückte, nahm sie sie, ohne zu zögern.
Danach rannte sie los. Um die verlorene Zeit wieder einzuholen, und weil sie den Gedanken entfliehen wollte, die sie wie ein Mückenschwarm verfolgten. Sie lief suchend durch die Straßen, spähte in Toreingänge, streifte durch das schicke Arbat-Viertel und machte auch vor den armseligeren Viertel nicht Halt, wo bereits Betrunkene in der Gosse lagen, in Zeitungen und den eisigen Schatten des Todes gehüllt.
»Kennt ihr einen Jungen namens Edik?«
Sie fragte jeden Straßenjungen, den sie finden konnte. Die schmutzigeren unter ihnen, die an Straßenecken einzelne Zigaretten verkauften oder vor den Kneipen gestreckten Wodka. Die etwas saubereren Lieferburschen, die für irgendwelche Ladenbesitzer Besorgungen machten. Selbst die hübschen, die Lippenstift trugen und hinter dem Bolschoi-Theater mit den schmalen Hüften wackelten. Wohl tausendmal immer die gleiche Frage: »Kennt ihr einen Jungen namens Edik?«
Es fing zu schneien an. In den Straßen wurde es dunkler, als die Läden schlossen und ihre Rollläden heruntergelassen wurden. Sie wusste längst nicht mehr, wo sie war, ihre Füße schmerzten, doch es war nicht klar, ob das an der Kälte lag oder an den Löchern in ihren walenki. Sie ging wohl besser nach Hause. Vielleicht war Alexej ja bereits zurück. Liew ging bestimmt brummelnd in ihrem schäbigen Zimmer auf und ab. Wahrscheinlich schimpfte Elena ihn aus, sagte ihm, Lydia sei durchaus in der Lage, selbst auf sich aufzupassen. Dennoch gingen ihre Füße einfach weiter und weiter, und als die Nacht hereinbrach, hatte sie auf einmal das Gefühl, Moskau sei dabei, sie zu verschlucken. Auf der anderen Straßenseite sah sie einen Jungen, der eine sperrige Last an einer Art Seil hinter sich herzog. Er hatte weizenblondes Haar und trug einen langen Mantel, dessen Schulterpartie bereits dick mit Schneeflocken bedeckt war.
»Edik!«, rief sie.
Der Junge drehte nervös den Kopf. Im schummrigen Licht einer Gaslaterne sah sie, dass sie sich getäuscht hatte. Er war es nicht. Der Junge begann zu laufen.
»Warte mal!«
Sie lief über die leere Straße. Sonst wäre er wahrscheinlich zu schnell für sie gewesen, doch da er seine schwere Last durch die Straßen zog, holte sie ihn mühelos ein. Das Etwas am Seil war ein dickes Schweinchen. Man hatte es an Vorder- und Hinterpfoten gefesselt, die
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