Die Sehnsucht der Konkubine
würde ihm keine Gelegenheit bleiben, ihr das ins Ohr zu flüstern, was er ihr sagen wollte. Sie fragte nicht, was er wollte, musterte ihn jedoch aufmerksam, ihre Augen blickten schwarz und leuchtend. Trotz der Düsterkeit um sie herum sah er das Feuer, das in ihnen loderte.
»Die Fabrik war beeindruckend«, sagte er.
»Hast du gesehen, wie viele Leute hier arbeiten?«
»Ja. Kommunismus in Aktion. Es funktioniert. Hier in Stalins Russland sehen wir, wie Lenins Ideen in die praktische Wirklichkeit umgesetzt werden. Sie sind dabei, eine erfolgreiche Zukunft für dieses Land zu schmieden. Und genau das ist es, wonach China lechzt, genau eine solche starke Hand.«
»Die feste Hand eines Vaters.«
»Aber eine, die ebenso streichelt, wie sie straft. Eine, die ebenso gibt wie nimmt.«
»Chang An Lo«, sagte Kuan auf ihre typisch ruhige Art, obwohl Chang ihr deutlich anhörte, dass sie sich nicht wohlfühlte. »Ich mache mir Sorgen.«
»Sorgen um China?«
»Nein, Sorgen um dich, Genosse.«
»Es besteht keine Notwendigkeit dazu.«
»Ich denke, vielleicht schon.«
In ihrem dick wattierten Mantel und dem kurzen, schwarzen Haar, das ein Gesicht mit breiten Knochen einrahmte, hätte sie ebenso gut die Tochter eines Reisbauern irgendwo aus dem ländlichen China sein können, einer von Millionen Menschen, die auf einem Stück Pachtland oder auf dem Hof der Familie zu einem Leben in Knechtschaft verurteilt sind. Doch ihre Augen sprachen eine andere Sprache. Sie waren nachdenklich und intelligent. Kuan besaß einen Universitätsabschluss in Jura und einen Verstand, der Probleme sofort erfasste und entschlossen an ihre Lösung heranging. Chang hatte nicht die Absicht, eines dieser Probleme zu werden.
»Kuan«, sagte er, »lass dich nicht von dem ablenken, weshalb wir hierhergekommen sind. Konzentrier dich. Unser Anführer Mao Tse-tung braucht unsere Intelligenz. Wir sind nach Moskau gekommen, um zu lernen.«
»Du hast natürlich Recht.« Sie wischte sich den Regen vom Gesicht. »Das ist es, worauf wir uns alle konzentrieren. Jeder von uns in der Delegation schreibt bis in die Nacht hinein einen Bericht.« Sie schaute ihn abwägend an. »Doch ich bin mir nicht sicher, ob du der kommunistischen Sache so ergeben gegenüberstehst wie sonst. Als wärst du mit den Gedanken ganz woanders.«
Die Sohlen von Changs Füßen fühlten sich an, als wäre er gerade auf Eis ausgerutscht. »Das ist nicht der Fall, Genossin. Ich richte meine ganze Aufmerksamkeit auf die Frage, wie wir unsere Möglichkeiten hier besser nutzen können, und denke, es ist an der Zeit zu beantragen, dass wir etwas ganz anderes besichtigen dürfen. Etwas … Anspruchsvolleres.«
Er lächelte sie an und beobachtete, wie das Misstrauen aus ihren Zügen wich und ihre Augen sich voller Vorfreude weiteten.
»Was hast du im Sinn, Genosse Chang?«
Er ging weiter durch den Regen, und sie schloss rasch neben ihm auf. Die Menschen sind wie die Fische im Peiho-Fluss, rief er sich ins Gedächtnis. Man muss ihnen nur einen Köder vor die Nase halten.
»Zeig mir deine Tätowierung.«
»Das ist nicht von Interesse, Lydia.«
»Für mich schon.«
Sie war fest entschlossen zu sehen, was man mit ihm gemacht hatte, damit sie endlich Bescheid wusste. Wusste, was sie ihm schuldig war. Er saß auf ihrer Bettkante, schicker und sauberer als vorher, in seinem neuen weißen Hemd und dem Geruch nach einem Rasierwasser, das sie nicht kannte. Doch die Art, wie er die Beine übereinandergeschlagen hatte, in einer ebenso gleichgültigen wie lässigen Pose, erinnerte durchaus an den Alexej von früher. Es war eine Erleichterung, ihn so zu sehen, trotzdem hatte sich auch etwas verändert. Sie spürte es am Ausdruck in seinen Augen und der weicheren Neigung seines Halses und wusste nicht, ob sie darüber froh oder traurig sein sollte.
Alexej knöpfte sein Hemd auf. Hinter ihr standen Popkow und Elena ganz steif und schweigend da, und sie spürte ihre Missbilligung so scharf, wie sie das Loch in ihrem Schuh spürte. Alexejs Finger arbeiteten schnell, und sie konnte nichts von einer Scham entdecken, die er doch eigentlich hätte empfinden müssen.
»Da«, sagte er und schlug sein Hemd auf.
Fast wurde ihr übel. Die Tätowierung war größer, als sie erwartet hatte. Es war eine Kathedrale, die Alexejs gesamten Brustkorb einnahm, so gewaltig, dass es den Anschein hatte, als würde sie die Brustknochen eindrücken. Der elegant geschwungene Zwiebelturm saß genau an der Stelle, wo sich die
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