Die Sehnsucht der Konkubine
schlechterer Verfassung. Der, der dir das angetan hat, bestimmt.«
»Ha!«
»Worum ging es denn?«
»Diese Scheißkerle!«
»Was haben sie denn gemacht?«
»Sie haben mir draußen aufgelauert.«
»Draußen wo?«
»Draußen vor deinem Zimmer.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie beugte sich hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Dem in der Uliza Raikow?«
»Da.«
Plötzlich war ihr eiskalt, und ihre Zähne klapperten.
»Wie haben sie das erfahren? Chang und ich sind so vorsichtig. Wir machen immer tausend Umwege, damit uns niemand folgt.«
»Ha!«
»Wie viele waren es?«
»Vier.«
»Aber jetzt werden sie sich über uns informieren und …«
»Njet.« Er drehte den Kopf, und die schwarze Augenklappe wurde nach oben gezogen, so dass die entstellte Augenhöhle sichtbar wurde. » Njet , kleine Lydia, sie sind tot.« Er zog eine Grimasse, wodurch die Wunde an seiner Wange wieder stärker zu bluten begann. »Also lächele«, brummelte er, »denn du und ich, Lydia, wir sind am Leben.«
Sie legte ihre Wange an seine, atmete den vertrauten strengen Körpergeruch ein. Seine Schulter fühlte sich so fest und warm an wie ein sonnenbeschienener Fels.
»Das Problem mit dir, Liew Popkow, ist, dass du einfach zu nett zu den Leuten bist. Versuch nächstes Mal ein bisschen mehr Härte zu zeigen.«
Er gluckste vor Vergnügen, und seine Rippen rasselten wie Gitterstäbe. »Ich brauche was zu trinken.«
Lydia setzte sich auf. »Ich gehe raus und kauf dir die größte Wodkaflasche, die ich in ganz Moskau auftreiben kann.«
Er grinste sie an. Offenbar hatte man ihm auch einen Zahn ausgeschlagen.
»Elena«, sagte Lydia. »Komm bitte mal hier rüber. Halt ihn warm. Und pass auf ihn auf, so lange ich weg bin.«
Die Frau legte ihre Stopfarbeit beiseite und schenkte Lydia einen langen Blick. In diesem Moment spürte Lydia, wie Elena sich einen Schritt weit von ihr entfernte, und sie spürte es so deutlich, als hätte sie die Schere auf ihrem Schoß genommen und den Faden durchgeschnitten, der die beiden Frauen verband. Ihre Freundschaft hatte plötzlich einen Knacks bekommen, doch Lydia konnte es Elena nicht verdenken. Sie wusste, dass es ihre eigene Schuld war. Gefahr hatte sie immer schon gewittert wie andere Mädchen Tand und Flitterkram. Traurig sah sie zu, wie die Frau aufstand und sich voll angezogen aufs Bett legte, wo sie die Arme um den großen Mann schlang und einen davon so fest um seinen Hals legte, dass es fast so aussah, als wollte sie ihn erwürgen. Innerhalb weniger Sekunden war Liew eingeschlafen und schnarchte.
Während Lydia sich den Mantel anzog, schmiegte Elena das Gesicht in Liews fettiges schwarzes Haar und murmelte: »Irgendwann, Lydia Iwanowa, wird er sterben, und das wird deine Schuld sein.«
SIEBENUNDVIERZIG
E dik war auf Diebeszug. Lydia hatte sein Opfer sofort erspäht: einen Mann, der mehrere Pakete trug. Er war gerade aus einem Tabakwarenladen getreten, in dessen Schaufenster Pfeifen in allen möglichen Formen und Größen feilgeboten wurden, und war viel zu sehr damit beschäftigt, sich die dicke Zigarre anzuzünden, die er sich zwischen die ebenso dicken Lippen gesteckt hatte, um das armselige Häuflein Haut und Knochen wahrzunehmen, das hinter ihm herschlich.
Lydia berührte den Jungen an der Schulter. »Beiß mich, und ich behalte Mistys Wursthälfte für mich.«
Edik blieb stehen und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Hau ab, ich bin bei der Arbeit.«
»Dann lass dich nicht von mir aufhalten.«
Er betrachtete sie argwöhnisch und schloss dann mit einem Achselzucken hinter zwei Frauen auf, die eifrig in ein Gespräch über die Vorzüge ihrer Hüte vertieft waren. Lydia bewunderte es, wie geschmeidig er sich an die Leute heranschlich und nur ganz kurz seitlich neben ihnen auftauchte, nahe genug, dass es in den Augen anderer so aussehen mochte, als gehörte er dazu, doch nicht nahe genug, um sein Opfer auf sich aufmerksam zu machen. Junge Männer, die allein unterwegs waren, waren immer verdächtig.
»Macht es dir was aus, wenn ich ein Stück mitkomme?«, fragte sie.
»Du wirst alles vermasseln.«
»Nein, keine Sorge. Ich gebe dir Rückendeckung.«
Er dachte zwei Sekunden lang nach, sah ein, dass sie Recht hatte, und ließ sie neben sich aufschließen.
»Ich habe einen Auftrag für dich«, murmelte sie hinter vorgehaltener Hand.
»Noch ein Brief?«
»Ja.«
»Nein.«
Die Geschwindigkeit, mit der dieses Nein gekommen war, überraschte sie. »Ich dachte
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