Die Sehnsucht der Konkubine
war er blass geworden.
»Was du gedacht hast, Gefangener, ist irrelevant.« Tursenow drehte den Kopf und musterte Jens genau. »Ein ganzer Testlauf«, sagte er. »Da dürfen keinerlei Fehler passieren.«
Jens schaute ihm direkt ins Gesicht, direkt in die harten, grauen Augen, und was er dort erblickte, hatte nichts mit Genugtuung zu tun. Es war Angst. Zu scheitern war für einen Mann wie Tursenow keine Option, denn Scheitern würde zwanzig Jahre Zwangsarbeit für ihn bedeuten, und damit nicht genug. Im Lager würden ihm die anderen Gefangenen noch während des ersten Jahres jedes Glied einzeln ausreißen, wenn die Wärter ihnen gerade mal den Rücken zudrehten. Jens hatte solche Dinge erlebt. Er hatte die Schreie gehört.
»Keine Fehler«, versicherte ihm Jens.
»Gut.«
»Darf ich nach dem Ort für den Test fragen?«
»Das wird dich amüsieren, Gefangener Friis. Er wird im Lager Surkow stattfinden.«
»Aber Oberst, dort sind Hunderte von Gefangenen untergebracht.«
»Und?«
»Man kann doch nicht all die Gefangenen einfach töten …«
»Das Töten mache nicht ich, Gefangener Friis. Das bist du.«
»Aber es besteht keine Notwendigkeit dazu.«
»Natürlich besteht eine Notwendigkeit, Gefangener Friis. Wir müssen uns vergewissern, wie tief die Flugzeuge zu fliegen haben und wie hoch die genaue Konzentration des Gases sein muss. Der Testlauf wird im Lager Surkow durchgeführt. Dieser Entschluss ist gefallen.«
Das Lager von Surkow. Eine Fülle von Erinnerungen rasten Jens durch den Kopf, und das Herz wurde ihm schwer. Stacheldraht, mit dem man ihn gefesselt hatte, Schläge mit einem Eisenrohr, bis es krumm wurde, Einzelhaft in einer Zelle, die kleiner war als ein Sarg, ein Rotkehlchen mit leuchtend rotem Bauch, das ihm auf den Finger geflattert war und sitzen blieb, bis ein Wärter es mit seinem Gewehrkolben erschlug und ihm dabei den Finger brach.
»Das ist der Ort, wo du dein Leben als Gefangener begonnen hast, wenn ich recht informiert bin.«
»Wo ich meinen Tod als Gefangener begonnen habe«, korrigierte ihn Jens.
Tursenow lachte. »Das ist gut. Das gefällt mir.« Das Lachen verstummte, als er Jens genauer ins Gesicht blickte. »Na gut, es scheint, du wirst auch mit dem Tod anderer Gefangener anfangen. Aber ich würde mich davon nicht beunruhigen lassen. Du bist schließlich am Leben, nicht wahr? Du hast überlebt.«
»Ja, Genosse Oberst. Ich habe überlebt.«
Das Licht im Hof war gelb. Es drang durch die Dunkelheit ein und ergoss sich wie Öl auf die Gestalten, die mit gebeugtem Rücken in der kalten Morgenluft standen. Heute kam es Jens so vor, als würden sie alle krank aussehen, doch vielleicht lag das daran, dass sie sich alle nach dem gestrigen Treffen mit Tursenow auch so fühlten. Krank und elend.
Ein ganzer Testlauf. Im Lager Surkow. Lieber Gott, damit hatte er nicht gerechnet. Dort gab es Menschen, die er kannte, Männer, mit denen er gegessen, gearbeitet hatte, Gefangene, die sich um ihn gekümmert hatten, als er verletzt war.
Er ging auf und ab, die Glieder steif und schwer, wieder und wieder in dem Kreis herum, der hinter dem Maschendrahtzaun des Geländes lag, froh darüber, nicht reden und nicht denken zu müssen. Sein Blick war auf das massive Eisentor des Gefängnisses gerichtet, seine Ohren ganz auf das Quietschen seiner Angeln eingestellt, und dabei bemerkte er nicht einmal, dass Olga hinkte. Er sah ihr Unglück deshalb nicht, weil er so sehr mit seinem eigenen beschäftigt war.
»Raus hier, du blöder Trampel!«
Der Bäcker riss die Plane vor der Ladefläche beiseite, doch das Pferd war fahrig, warf den Kopf hin und her und tänzelte nervös mit den Hufen. Die ganze Zeit über hielt Jens aus dem Augenwinkel nach dem Jungen Ausschau. Warum war der Bursche nicht da? Er hätte die Zügel nehmen und das Pferd beruhigen können.
»Weiter!«, schrie ein Wachposten.
Es war Babitski, dessen Nervenkostüm an diesem Morgen etwas angegriffen war, weil er seit dem Aufstehen unter einer schweren Erkältung litt und eine weitere Stunde Überwachung der Leibesertüchtigung das Letzte war, wonach ihm der Sinn stand. Jens bewegte die Füße. Es war ihm gar nicht bewusst gewesen, dass sie stehen geblieben waren. Andere Gefangene murrten vor Ungeduld, ihre Atemwolken hingen wie eine Dunstglocke über dem Gefängnishof, weshalb es auch einen Moment dauerte, bis Jens wieder einen Blick in den Karren werfen konnte, nur einen kurzen Blick über die Schulter, während er der Spur von
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