Die Sehnsucht der Konkubine
…«
»Nein. Keine Briefe mehr.«
»Geht es darum, dass du mehr Geld willst? Weil …«
Seine blauen Augen wanderten voller Verachtung über ihr Gesicht. »Natürlich nicht. Ich kann es einfach nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Ich kann nicht. Das ist alles.«
»Angst vor dem Gefängnis?«
Diese Bemerkung würdigte er nicht einmal einer Antwort. Sie hatten sich langsam an den Mann mit der Zigarre und den Paketen herangearbeitet, und Edik ging auf Zehenspitzen, die Hände locker an die Seiten gelegt, bereit zum Zugriff.
»Ich mach einen guten Fang für dich«, versprach Lydia, »wenn du mir noch einen einzigen Brief überbringst.«
»Echt?«
»Schau zu.«
Lydia näherte sich. Sie schwenkte auf der einen Seite an dem Mann vorbei, der Junge an der anderen Seite. Wie auf Kommando stieß sie plötzlich mit der Hüfte gegen sein Paketbündel, zuckte wie vor Schmerz zusammen, stolperte und klammerte sich an ihn, als müsste sie sich festhalten. Der Mann war auf der Stelle die Besorgtheit in Person, stützte sie. Sie schenkte ihm ihr charmantestes Lächeln, dankte ihm und ging rasch weiter. Als Edik in der nächsten Seitenstraße neben ihr aufschloss, lachte er.
»Du bist gut. Für ein Mädchen.«
»Du bist aber auch nicht übel. Für einen Jungen. Was hast du gekriegt?«
Er hielt ihr ein silbernes Zigarettenetui mit diagonalen Einlegearbeiten aus Jett hin. »Das wird genügen, schätze ich.« Das sagte er eher beiläufig, doch sie wussten beide, dass es ein wertvoller Fang war. »Und du?«
Sie fischte eine Brieftasche aus Kalbsleder aus ihrer Tasche. Sie fühlte sich wohl gefüllt an. Sie warf sie ihm zu.
»Für mich?«
»Ich hab’s dir doch versprochen, stimmt’s? Und jetzt den Brief.« Auf ihrer Hand lag die viereckige Metallmappe. Sie hielt sie ihm hin.
»Nein.« Die eingefallenen Wangen überzogen sich mit einem zarten Rot, und auf einmal sah er sehr jung aus.
»Edik! Was, zum Teufel …« Erst in diesem Moment dämmerte es ihr. Tschort! Das hätte sie sich denken können. »Es ist wegen der wory w sakone , stimmt’s? Die haben dir die Anweisung gegeben, damit aufzuhören.«
Er nickte, wütend und beschämt zugleich.
Dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. »Misty? Wo ist Misty?«
Er wandte den Blick ab. Wollte nicht, dass sie ihm ins Gesicht sah. Mit den Fingern zählte er die Rubelnoten aus der Brieftasche, doch allein bei der Erwähnung von Mistys Namen sank sein ganzer Körper vor Kummer in sich zusammen.
»Die haben sie, stimmt’s?«, rief Lydia aus. »Die wory haben dir deinen Hund abgenommen, um dafür zu sorgen, dass du ihnen gehorchst.«
Edik steckte die Brieftasche in seine viel zu große Tasche. »Scheißkerle«, flüsterte er.
»Scheißkerle«, pflichtete ihm Lydia bei.
Aber sie wusste, dass Alexej dahintersteckte. Der sie auf die einzige Weise unter Kontrolle zu halten versuchte, die er kannte.
»Scheißkerl«, sagte sie noch einmal und drückte den Arm des Jungen. »Ich hol sie dir zurück, mach dir keine Gedanken.«
Edik trat nach einem Eisbrocken, der zersplitterte und im Sonnenlicht Tausende von schimmernden Regenbogen aussandte. »Ich bring die um, wenn sie ihr was tun.«
Lydia ließ die Blechhülle wieder in ihre Tasche gleiten gleich neben der goldenen Taschenuhr des Mannes, die leise vor sich hin tickte, und dann lief sie, auf dem Schnee schlitternd und rutschend, davon.
»Kuan.«
Das chinesische Mädchen sah zuerst überrascht und dann nervös aus. Sie kam die breite Treppe des Hotels Triumfal herunter und hatte die schmale Gestalt gar nicht bemerkt, die sich in den dunklen Schatten auf der anderen Straßenseite verbarg. Kuan hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, bevor es dunkel wurde eine Runde in dem Park gegenüber dem Hotel spazieren zu gehen. Sie zögerte.
»Kuan«, rief Lydia abermals.
Sie war dankbar, als die Chinesin auf sie zukam, denn es wäre ihr nicht recht gewesen, hätte sie die Flucht angetreten und wäre die Hoteltreppe wieder hochgelaufen.
In ihrem blauen Mantel und der unförmigen Mütze mit ihrem hässlichen grauen Kaninchenfellbesatz wirkte Kuan reichlich plump, was sie für die übrigen Mitglieder der Delegation gewiss nicht übermäßig attraktiv machte. Trotzdem fing Lydia an den Handflächen an zu schwitzen. Da war etwas an dem glatten Gesicht des chinesischen Mädchens, das ihr sagte, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen war. Entschlossenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben, und ihre politische Hingabe brachte ihre
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