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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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Fußabdrücken folgte, unter denen das Eis am Boden knisternd zerbrach.
    Was er sah, war so erschreckend, dass sich das Bild wie ein Nagel tief in sein Denken bohrte. Entweder er sah nicht recht, oder es war eine Sinnestäuschung seines Gehirns. Jedenfalls konnte das nicht sein. Er wandte den Blick ab, konzentrierte sich darauf, dass seine Beine weitermarschierten, und drei Sekunden später, als er wieder den Kopf wandte, war er überzeugt davon, dass er sich getäuscht hatte.
    Doch er hatte sich nicht getäuscht.
    Er musste die Zähne fest in die Zunge drücken, um nicht laut loszuschreien. Sein Denken kam zum Stillstand. Er umrundete das hintere Ende des Übungskreises und merkte erst, dass er schneller geworden war, als er gegen den Mann vor ihm stieß.
    »Pass doch auf«, bellte der Mann.
    Jens hörte ihn gar nicht. Er starrte zu dem Brotkarren. Zu dem Pferd. Zu dem großen Mann, der von der anderen Seite gekommen war und jetzt direkt in Jens’ Richtung schaute. Er hielt das Pferd an den Zügeln und hatte eine seiner Pranken auf den schwitzenden Hals des Tieres gelegt. Jens erkannte ihn sofort, obwohl so viele Jahre vergangen waren. Es war Popkow, Liew Popkow. Älter und schmutziger, doch diesen verdammten Kosaken hätte Jens überall auf der Welt wiedererkannt. Die schwarze Augenklappe, die Säbelwunde quer über der Stirn, bei der sich Jens bis zum heutigen Tag noch erinnerte, wie sie ihm zugefügt worden war.
    »Was ist denn los mit dir?« Der Mann hinter ihm stupste ihn unsanft in den Rücken.
    »Ruhe!«, schrie Babitski.
    Jens bemerkte, dass Olga ihn beobachtete, doch ihr Gesicht war verschwommen. Er ging weiter. Wie lange war er schon hier draußen in dieser gelb besudelten Dunkelheit? Fünfzehn Minuten? Zwanzig? Fünfundzwanzig? Vielleicht blieben ihm ja nur noch wenige Minuten. Er holte tief Luft, die Luft brannte höllisch in seinen Lungen, doch sie beruhigte ihn auch. Ganz langsam kam sein Gehirn wieder in Gang.
    Hatte Lydia in ihrer Nachricht nicht erwähnt, dass der Kosak mit ihr hier in Moskau war? Popkow und Alexej, hatte sie geschrieben. Ohne erkennbare Hast schaute er erneut durch den Maschendraht des Zauns und quer über die Fläche von etwa dreißig Metern, die ihn von dem Bäckerkarren trennten.
    Ein unwillkürliches Blinzeln, und seine Augen huschten zu dem Steinsitz an der Mauer herüber. Jens hatte eine weitere Metallhülle hergestellt, damit der Junge sie im selben Moment, wenn er eine neue Nachricht von Lydia brachte, mitnehmen konnte. Doch der Junge war nicht hier. Es war Popkow. Der große Mann trug ein Tablett pelmeni , deren Fleischduft bis zu den Gefangenen herübergeweht wurde und ihnen den Mund wässrig machte, und Jens sah, wie er unauffällig unter den Sitz lugte, zu den Pflastersteinen darunter, während er auf das Gebäude zumarschierte. Bis jetzt ging alles glatt.
    Erst als Popkow wieder aus dem Gebäude kam, lief alles schief. Als wären sich durch Zufall ihre Blicke begegnet und der Kosak hätte ihm zugenickt, was jedoch ebenso gut nur ein nervöses Zucken seines dicken Halses gewesen sein konnte. Jens hob die Hand und rückte seine Mütze gerade. Eine Art Gruß. Der Bäcker hatte es eilig. Jens’ aufmerksamen Augen war nicht entgangen, dass er heute noch nervöser war als sonst, noch reizbarer, und dass seine Füße über die Pflastersteine eilten, als ginge er auf glühenden Kohlen.
    »Du da!« Das Gebrüll kam von Babitski. »Ich kenn dich, du Scheißkerl.«
    Alle drehten sich um und schauten zu dem kräftigen Wachposten. Babitskis Gewehr zielte direkt auf Popkows Brust.
    »Nehmt den Arsch fest!«, rief Babitski. Trotz der frühmorgendlichen Kälte war sein Gesicht knallrot angelaufen. Er stampfte über den Gefängnishof, das Gewehr im Anschlag. »Du da«, brüllte er. »Jetzt bring ich dich um.«
    Jens warf sich gegen den Zaun. »Lauf!« , schrie er.
    Doch für den Kosaken gab es keine Möglichkeit, irgendwohin zu laufen, und das wusste er. Das Tor war verrammelt, der ganze Hof mit Männern in Uniform umstellt, die langsam näher kamen, die Läufe ihrer Gewehre vor sich ausgestreckt. Er grinste Jens zu, Zähne blitzten hell inmitten seines schwarzen Bartes auf, und rollte mit den massiven Schultern, um sich auf den Kampf vorzubereiten, auch wenn es ein Kampf mit bloßen Händen war.
    »Njet!« , rief Jens.
    Jetzt stürzte sich Babitski auf Popkow, stieß ihm mit voller Wucht das Gewehr in den Bauch. Der Wärter war groß, doch Popkow war größer und schneller als er.

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