Die Sehnsucht der Konkubine
gab ein kurzes, ungeduldiges Schnauben von sich, »ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass du ihn nach all den Jahren wiedererkennst.«
»Ich sag es dir, ich habe ihn gesehen.«
»Wo?«
»Durchs Fernglas. Er saß auf einer Bank neben dem großen Hangar.«
»Das bildest du dir ein.«
»Er war es. Ich weiß, dass er es war.«
Alexej beließ es dabei. Warum sollten sie darüber streiten? Wenn sie sich so sehr wünschte, ihren Vater gesehen zu haben, dann ließ er sie gerne in dem Glauben.
»Jetzt komm«, sagte er etwas barsch und entzog ihr sein Handgelenk. »Wir müssen weiter. Igor hat das Seil schon weggepackt.«
Der Wind frischte auf, er zerrte an den Ästen, stahl sich durch den Nebel. Während sie sich erneut im Gänsemarsch auf den Weg machten, warf Lydia einen letzten Blick auf die Begrenzungsmauer und flüsterte: »Da saß eine Frau neben ihm auf der Bank, Alexej. Und sie haben Händchen gehalten.«
Sie fielen fast über die Leichen.
»Alexej!«
Lydia hatte den Rücken seines Mantels gepackt und so fest nach unten gerissen, dass sie ihn fast erwürgt hätte. Als er zu ihr herumfuhr, sah er zu seiner Überraschung ein Messer in ihrer Hand. Wo, zum Teufel, war das hergekommen?
Sie war auf einen Arm getreten.
»Runter!«, bedeutete er ihr.
Er zog sie neben einem Baumstamm in die Hocke. Igor hatte sich flach auf den Boden geworfen. Da es in dem Kiefernwald kaum Unterholz gab, kamen sie leichter vorwärts, aber Deckung gab es dafür auch kaum. Er drückte sie nieder, und als er ihr deshalb die Hand auf den Rücken legte, spürte er, wie ihr Herz raste. Er wartete zehn Minuten, die Pistole in der Hand. Dann weitere zehn. Es rührte sich nichts, keine Zweige, die knackten, keine Vögel, die aufflatterten. Kein Geräusch, nur Stille. Niemand sprach ein Wort, nicht mal ein Flüstern, doch Alexej gab Igor Handzeichen und robbte dann von ihnen weg.
Er fand einige Spuren. Und vier Tote, alle in Uniformen der Roten Armee. Blutüberströmt. Als hätte jemand sie mit roter Farbe übergossen. Er blickte suchend in der Umgebung umher, zwischen den Baumstämmen und bis hoch in die Wipfel, konnte jedoch niemanden erkennen. Niemand Lebendigen jedenfalls; niemanden, der mit seiner Atemluft den Nebel mit Schlieren durchzogen hätte. Als Alexej zu Lydia zurückkehrte, hatte sie keinen Muskel bewegt, als wäre sie durch die eisige Luft zum Erstarren gebracht. Doch auf sein Nicken hin sprang sie sogleich auf und ging in die Hocke.
»Sieh mal«, flüsterte sie.
Ihr Blick ruhte auf einem der toten Soldaten. Er war jung, saß zusammengesunken an eine Kiefer gelehnt, die Augen weit aufgerissen, und schien sie direkt anzusehen. Aus glasigen, nutzlos gewordenen, himmelblauen Augen. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten, ein glatter Schnitt von Ohr zu Ohr, der aussah wie ein breites Grinsen. So, als wäre das alles bloß ein Fehler gewesen – nur dass es bitterer Ernst war.
»Da sind noch mehr«, murmelte Alexej und hielt vier Finger hoch.
Sie fuhr sich mit der Handkante über die weiße Haut ihrer Kehle und hob fragend eine Augenbraue. Er nickte. Alle Toten hatten das makabre Grinsen unter dem Kinn. Er sah, wie sie zusammenzuckte, und befürchtete, sie würde vor Schreck ganz starr werden oder in Ohnmacht fallen. Das hatte er schon oft erlebt. Menschen unter Schock reagierten so. Fast war er darauf vorbereitet, sie sich, wenn nötig, über die Schulter zu legen und wegzutragen, doch als er Anstalten dazu machte, schloss sie einfach nur hinter ihm auf, wie sein Schatten. Igor bildete abermals die Nachhut. Seine kleinen Augen huschten nervös von Baum zu Baum.
Erst als sie den Armeelastwagen erreichten, fragte Lydia leise: »Wer hat das getan? Wer hat sie umgebracht?«
Alexej war sich ziemlich sicher, wer das gewesen war, doch aus irgendeinem Grund zögerte er, es seiner Schwester zu sagen.
»Alexej«, bedrängte sie ihn.
»Das wird Maxim gewesen sein. Um uns den Rücken freizuhalten. Das tut ein guter pakhan für seine Leute.«
»Aber du hast gesagt, die Patrouille arbeitet immer paarweise. Und dass sie den Wald nicht besonders sorgfältig kontrollieren. Warum waren es dann vier Soldaten?«
Alexej schwang sich in den Lastwagen. »Liegt das nicht auf der Hand?«, fragte er mit grimmiger Miene.
»Für mich nicht, nein.«
»Wir sind verraten worden.«
»Verraten? Aber wer hat denn gewusst, dass wir heute hierherkommen?«
»Nur wir.«
Die alte Klapperkiste stand nach wie vor am Wegesrand. Erleichterung traf
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