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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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Offiziers weiteten sich, und er zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern.
    »Hast du sie gelesen?«, wollte Chang wissen.
    »Nein, Kommandant.«
    »Schwörst du? Bei der Ehre deiner Ahnen?«
    Die Jacke drohte zu zerreißen.
    »Ich schwöre.«
    Ein Pulsschlag. Das war alles. Dann hätte ein Messer die Sehnen an Wangs Kehle durchtrennt. Er sah es in Changs schwarzen Augen.
    »Ich kann nicht lesen«, flüsterte der Soldat. Seine Stimme war kaum mehr als ein leises Kratzen in der Luft. »Ich habe es nie gelernt.«
    Noch zwei Pulsschläge. Dann nickte Chang und schob den Mann von sich.
    »Also«, sagte Luo leise. »Deine geheimdienstlichen Informationen waren richtig. Der Zug transportierte mehr als nur Nachschub für die Nationalisten.« Er richtete einen vernarbten Zeigefinger auf das klaffende Maul des Tresors. »Schau.«
    Chang bewegte sich langsam über den felsigen Untergrund, doch seine Augen nahmen die zerschmetterten Leiber nicht mehr wahr, die seinen Weg kreuzten. Ganz hinten in dem Tresor lagen drei Hanfsäcke, die offenbar stabil genug gewesen waren, um die Explosion unbeschadet zu überstehen, die die Tür des Tresors weggerissen hatte. Er griff hinein und holte einen der Säcke heraus. Er war so schwer, dass Chang die Muskeln seines Unterarms anspannen musste, und trug einen kyrillischen Aufdruck in dunkelbrauner Tinte.
    Chang schüttelte den Sack und hörte ein metallisches Klimpern. Ohne hineinzuschauen wusste er, was in dem Sack war. Gutes russisches Gold.

FÜNF

    S ag mir, Alexej, woran erinnerst du dich?«
    Lydia gab sich Mühe, ihre Frage nicht allzu begehrlich klingen zu lassen, aber das fiel ihr nicht leicht. Der Zug hatte angehalten. Es fühlte sich seltsam an, hier mit ihrem Bruder zu stehen, mitten in der Nacht und mitten im Nirgendwo, unter einem dunklen und sternenlosen Himmel. Doch alles war besser, als Stunden um Stunden in dem engen Zugabteil zusammengepfercht zu sein. Das unbekannte Gefühl, in einem Zug zu reisen, hatte sich längst abgenutzt, all die anfängliche Aufregung und die Freude darüber, lauter Neues zu entdecken, hatten sich gelegt und waren unter einem Berg von Verzögerungen und Enttäuschungen begraben worden. Nein, Enttäuschungen eigentlich nicht. Lydia schüttelte den Kopf und zog ihre Mütze noch tiefer ins Gesicht, in dem sinnlosen Versuch, die Kälte abzuschirmen, die erbarmungslos unter ihre Haut kroch. Sie stampfte mit den Stiefeln auf dem Kies auf und spürte, wie das Blut kurzzeitig durch ihre Zehen floss.
    Nein, keine Enttäuschung. Das war das falsche Wort. Sie durchforstete sorgfältig ihr erst kürzlich erlerntes russisches Vokabular und stieß stattdessen auf dosada . Frustration. Das war es. Dosada. Es war ein Gefühl, das ihr neu war.
    »Ich hatte mich schon gewundert, wann du wohl danach fragst«, sagte Alexej ruhig. »Lange genug hast du gebraucht.«
    Da war etwas in seiner Stimme, etwas Zögerndes, Zauderndes.
    »Ich frage jetzt«, sagte sie. »An was erinnerst du dich?«
    In der Dunkelheit konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, trotzdem spürte sie seine Anspannung an der Art und Weise, wie er die Schultern straffte, als wäre da etwas, das ihn störte oder bedrängte. Etwas, das er gerne losgeworden wäre. War sie es? War sie es, die ihn störte und bedrängte oder ihm Schmerz verursachte?
    Finsternis hatte die Landschaft um sie herum so vollständig verschluckt, dass Lydia nicht einmal erkennen konnte, ob vor ihnen Berge lagen oder sich eine offene Ebene ausbreitete. Irgendwo war das leise Murmeln eines Flusses zu hören. Einige andere Fahrgäste waren ebenfalls aus dem Zug gestiegen, um sich die Beine zu vertreten, während die Wassertanks des Zugs aufgefüllt wurden, doch ihre Stimmen waren gedämpft. Lydia stemmte den Kopf gegen den Wind und bemerkte dabei, dass Alexejs behandschuhte Hand sich zur Faust schloss und öffnete, wieder und wieder. Als sie ihn gefragt hatte: Woran erinnerst du dich? , hatte sie nicht näher erläutert, welche Erinnerungen sie meinte, aber das brauchte sie auch nicht. Sie wussten es beide. Als sie jetzt jedoch sah, was er mit seinen Händen machte, kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, er könne vielleicht gar nicht den Wunsch verspüren, seine Erinnerungen an Jens Friis mit ihr zu teilen. Nicht mit ihr.
    War der Raum, den die Erinnerung an seinen Vater einnahm, ein zu vertraulicher Bereich für ihn? Ein Bereich, an dem er niemanden teilhaben lassen wollte?
    Sie wartete und lauschte einen Moment lang den

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