Die Sehnsucht der Konkubine
als sie seinen Fuß genäht hatte, nachdem ein Hund ihn zerfetzt hatte. Oder das Erstaunen in seinen Augen, als sie ihm ein weißes Kaninchen ans Bett gebracht hatte, um ihn aufzuheitern, als er in Tschangschu krank daniederlag. Und wie dunkel diese Augen wurden, wenn er wütend war … oder wie hell, wenn Liebe in ihnen leuchtete. Sie waren und blieben dort in ihrer Erinnerung, immer …
Was mochten sie wohl in diesem Moment anschauen? Und wen?
Lydia schlug die Augen auf.
»Alpträume? Koschmary? «
Es war die Frau aus dem Hotel, die sie angesprochen hatte. Was wollte sie? Nach Konversation stand Lydia nicht der Sinn. Die Augen der Frau mussten irgendwann einmal blau gewesen sein, doch nun waren sie farblos wie Leitungswasser, und sie musterten Lydia mit trägem Interesse. Niemand sonst schien in ihrem Abteil wach zu sein. Der Mann, der zur Linken der Frau saß, trug einen blassen Zobelmantel, der sich im Schlaf geöffnet hatte, und die Frau hatte die Gelegenheit genutzt, eine Seite des Fells zu sich herüberzuziehen, um sich damit zusätzlich zu wärmen.
Das gefiel Lydia. »Nein«, sagte sie. » Njet . Keine Alpträume.«
»Langeweile?«
»So was in der Richtung.«
Die Frau blinzelte und sagte eine Weile nichts mehr, so dass Lydia dachte, für sie sei das Gespräch damit beendet. Doch sie täuschte sich.
»Wer ist dein Freund, Genossin?«
»Warum fragst du?«
Die Frau öffnete den Mund und leckte sich lasziv über die Lippen. »Ich suche immer nach einem Mann.«
»Er ist nicht interessiert«, sagte Lydia tonlos.
»An dir nicht? Oder an mir?«
»Er ist mein Bruder.«
»Ha! Nicht der Gutaussehende mit den langen Beinen, durotschka, Dummerchen. Dermo! Der ist zu jung für mich. Ich meine den anderen.«
Popkow? Die Frau interessierte sich für Popkow?
Lydia beugte sich vor und tippte der Frau höflich, aber bestimmt auf das pelzbedeckte Knie. »Halt dich von beiden fern.«
»Du brauchst doch nicht alle beide«, sagte die Frau lachend. »Sei nicht so gierig.« Mit ihren wässrigen Augen musterte sie Lydia in einer Weise, bei der ihr unbehaglich wurde. »Und du, malyschka«, fügte die Frau hinzu, »bist ebenso wenig aus Smolensk wie ich aus …« Sie hielt inne und zeigte kurz ihre dicke, rosa Zunge. »China.«
Lydia ließ sich unmerklich in den Sitz fallen. Wie konnte die Frau das wissen?
Lydia erinnerte sich daran, was Alexej zu ihr über die Menschen in diesem Sowjetstaat gesagt hatte, die über deine Geheimnisse eher Bescheid wussten als du selber. Mit einem gleichgültigen Achselzucken, als hätte das Gespräch sie nur gelangweilt, nahm sie die Wolldecke von ihren Knien, legte sie sorgfältig und in aller Ruhe zusammen und verstaute sie in dem Gepäckfach über ihrem Kopf. Dann schob sie die Abteiltür auf und trat, ohne der Frau noch einen Blick zu schenken, in den düsteren Gang hinaus.
Ich atme, mein Geliebter. Ich atme immer noch.
SECHS
A uf dem Gang im Zug war es sogar noch kälter als im Abteil. Lydia schaute in beide Richtungen und sah zu ihrer Erleichterung, dass außer ihr niemand von Schlaflosigkeit geplagt war oder das Bedürfnis verspürte, sich die Beine zu vertreten, obwohl ein starker Tabakgeruch in der Luft hing, als hätte kürzlich jemand hier draußen geraucht. Der Gang war braun getäfelt, und da nur ein einziges schummriges Licht hoch oben an der Wand brannte, kam man sich vor wie in einem langen braunen Schlauch. Lydia mochte dieses Dämmerlicht. Es beruhigte sie. Und half ihr dabei, besser nachzudenken.
Ein Beben durchlief den Zug, während sich seine Räder gleichmäßig drehten, und Lydia presste ihr Gesicht gegen die kalte Fensterscheibe, konnte aber nichts erkennen außer der Nacht selbst, die sich wie eine schwarze Decke über die Landschaft gesenkt hatte. Dort draußen brannten keine Lichter, es gab keine Städte, keine Dörfer. Nur eine endlose gefrorene Wildnis aus Bäumen und Schnee.
Wie, um alles in der Welt, hatten sie hier draußen eine Eisenbahn gebaut? Die gewaltige Größe Russlands nahm ihr ebenso den Atem wie die Chinas, eine Größe, die bei Weitem ihre Vorstellungskraft überstieg. Stattdessen hatte sie gelernt, sich auf die kleinen Dinge des Lebens zu konzentrieren, und darin war sie gut: Sie sah Dinge, die anderen entgingen. Zum Beispiel die Sonne, die auf der Taschenuhr eines Mannes blitzte; die Ecke einer Brieftasche, die aus einer Jackentasche ragte; oder die goldene Lippenstifthülse einer Dame, die nur eine Sekunde lang auf dem Tresen eines
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