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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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tun? Würde er an seinem Ungeheuer festhalten?
    Wo war er überhaupt? Die weiße Mähne war nicht mehr zu sehen. Wo war er hin? Alexej ging schnurstracks auf die Gruppe zu, die beim Anblick seiner Uniform erschrak, doch in genau diesem Moment wurde einer der Motoren gestartet. Es war der hintere Wagen, derjenige mit dem toten Soldaten auf dem Beifahrersitz und der offen stehenden Tür, der unter großem Geholpere von dem Waldweg abbog und in die schwarze Welt unter den Bäumen eintauchte. Er fuhr schnell, und als die offen stehende Tür aus den Angeln gerissen wurde, hallte ein nervenzerreißendes Kreischen durch den Wald.
    »Jens!«, bellte Alexej.
    Eine schmale Gestalt kam schnell aus der Dunkelheit gelaufen. Es war Lydia, die gerade noch rechtzeitig sah, wie der NAMI -1 auf der anderen Seite der gefällten Kiefer aus dem Wald schoss. Einen Moment lang drehten die Räder auf dem Waldboden durch, der Motor drohte abzusaufen, doch dann raste er in fast unvermindertem Tempo in Richtung des Hangars weiter.
    »Jens!«, brüllte Alexej erneut.
    Lydia schaute von ihrem Bruder zu dem Wagen, der in der Nacht verschwand, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht erstarrte zu einer Fratze tiefster Verzweiflung.
    »Papa!«, schrie sie. »Papa!«
    »Er ist fort. Er ist weggefahren. Ich hab ihn nicht mal gesehen, so gierig war er darauf, zu seinem Ungeheuer zurückzukommen.«
    Sie hatten sich tief in den Wald zurückgezogen, und Chang konnte in der pechschwarzen Finsternis ihr Gesicht nicht mehr erkennen, doch ihre Stimme konnte er hören. Das genügte. Er zog sie an sich, drückte sie, küsste sie auf die kalte Wange. »Deshalb sind wir hier, mein Liebes. Für den Fall, dass mit dem Plan deines Bruders etwas schiefläuft.«
    Sie zuckte zurück, um ihn anzuschauen, und ihr Gesicht war nicht mehr als ein heller Fleck mit dunklen Löchern statt Augen. Es sah einem Totenschädel so beunruhigend ähnlich, dass ihm ein Schauder über den Rücken fuhr, wie ein eisiger Finger der Angst. Lasst das kein Omen sein, beschwor er lautlos seine Götter.
    »Folgen wir ihm?«, fragte sie. Ihre Stimme hatte sich verändert. Es war wieder die von Lydia.
    »Wenn du das möchtest.«
    Statt einer Antwort küsste sie ihn auf die Lippen.
    In diesem Moment richtete sich eine große Gestalt, die nicht besser roch als ein Bär, geräuschvoll aus dem Unterholz auf und brummte: »Worauf warten wir dann?«
    Es war Popkow.
    Das Steuer ruckte und zuckte in Jens’ Händen. Er wusste, dass er auf der unebenen Straße viel zu schnell unterwegs war. Etwas konnte kaputtgehen. Er war an Automobile nicht gewöhnt. Vor Jahren in St. Petersburg hatte er einen eleganten, schimmernden Buick besessen, und in den vergangenen zwölf Jahren hatte man ihn auf den Holzschlageplätzen zweimal einen Lastwagen lenken lassen. Doch dieses Militärfahrzeug war wie ein schlecht erzogener Hund, der einen Moment lang heftig an der Leine zog und sich im nächsten störrisch gab. Er drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
    Er musste schnell zum Hangar, bevor es seinen Rettern mit den harten Gesichtern in den Sinn kam, ihn zu verfolgen. Eigentlich hätte er ihnen dankbar sein sollen, das wusste er, doch er war es nicht. Meine Güte, diese Leute hatten ihr Leben riskiert! Gute russische Männer waren gestorben. Oh, meine liebste Lydia, warum warst du nicht da? Ich habe nach dir gesucht. Während er durch den Wald raste, fragte er sich, was wohl die anderen Wissenschaftler und Ingenieure jetzt machen würden. Fliehen? Olga ja, dessen war Jens sich sicher. Elkin jedoch nicht. Vielleicht würden ja diejenigen, die begriffen, welche Möglichkeiten es noch gab …
    Urplötzlich ragte ein Ast aus der Dunkelheit und krachte gegen die Windschutzscheibe, wobei er sie an einer Seite einschlug. Der Wagen schlitterte quer über die Straße, doch Jens hielt einfach den Fuß auf dem Gaspedal und raste weiter auf den gelben Schimmer zu, der sich langsam in der Ferne abzeichnete. Wie eine Art gemalte Sonne. Jens verzog das Gesicht. Was für eine Illusion – als verkündete ausgerechnet die sowjetische Zwangsmaschinerie einen neuen Morgen.
    » Dokumenti? Ausweis?«
    Der Soldat war aus seinem Wachhäuschen neben dem Tor getreten und richtete die Mündung seines Gewehrs direkt auf Jens’ Kopf.
    »Ich bin einer der Ingenieure, die hier arbeiten. Ich habe keine Papiere. Hör mir zu, der Lastwagen, der uns hierher- bringt, ist im Wald überfallen worden.« Jens trat vor Ungeduld im Leerlauf auf das Gaspedal.

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