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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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noch nichts sehen. Aber sie konnte alles Mögliche hören. Nachtgeräusche. Geräusche, bei denen ihr die Haare auf den Armen zu Berge standen und ihr die Kehle trocken wurde. Es knackte und raschelte, als wäre da ein großes Tier, und sie musste sich dazu zwingen, still zu bleiben. Am liebsten hätte sie nach allen Seiten mit den Händen herumgefuchtelt, weil sie das Gefühl hatte, Schatten kämen immer näher. »Alles in Ordnung?«, flüsterte Chang neben ihr.
    »Bestens.«
    Sie hörte, wie er ganz langsam Luft holte, und fragte sich, wie viel sie mit dem einen Wort preisgegeben hatte. Wie lange kauerten sie nun schon neben dem Baumstumpf? Eine Stunde? Zwei? Sie hatte die Zeit vergessen. Es war kein Himmel zu sehen, kein Mond, nur eine schwarze Wand über ihren Köpfen, die von noch schwärzeren Umrissen durchbrochen wurde, wenn die Bäume im Wind schwankten und mit den Ästen ein unheimliches Knarren von sich gaben. Sie sprach nicht, bewegte sich nicht. Versuchte, irgendwie zur Ruhe zu kommen. Die Kälte kroch ihr bis in die Knochen, doch da war auch Changs Wärme, die sie durch ihren Mantel hindurch spürte, und darauf konzentrierte sie sich. Wenn sie zu genau über das nachdachte, was vor ihnen lag, dann würden ihre Arme und Beine in heftige Zuckungen verfallen.
    »Angst?« Changs Atem an ihrem Ohr fühlte sich feucht an.
    »Nicht um mich.«
    »Um deinen Vater?«
    Sie nickte. Er konnte es nicht sehen, doch sie wusste, dass er die Bewegung in der Dunkelheit spüren würde.
    »Es ist sein sicherer Tod, wenn wir nichts unternehmen.«
    »Ich weiß.«
    »Ich werde ihn beschützen, soweit es in meiner Macht steht.«
    »Ich weiß.«
    »Aber zuerst werde ich dich beschützen.«
    Plötzlich erstarrte er neben ihr, und sie spürte, dass er mit seinen geschärften Sinnen etwas wahrgenommen hatte, was ihr entgangen war. Fünfzehn Sekunden später sah sie es, ein verschwommenes Licht, weit weg, das zwischen den Bäumen auftauchte und wieder verschwand. Es war ein ganzes Stück weg, zu weit, um irgendwelche Geräusche zu hören, aber sie wussten beide auf der Stelle, was es war. Der Lastwagenkonvoi. Lydias Herz klopfte heftig, es pumpte heißes Blut und Adrenalin in ihre durchgefrorenen Arme und Beine. Schon war sie bereit, sich zu bewegen, doch Changs Hand legte sich auf ihren Schenkel und bedeutete ihr zu bleiben, wo sie war.
    Heute würde es hart werden. In dem Lastwagen saß Jens mit geschlossenen Augen auf der Bank, den Rücken fest an die metallenen Seitenverstrebungen gedrückt. Auf diese Weise schloss er die Dunkelheit aus. Der Lastwagen rumpelte und klapperte, der Motor kämpfte sich auf der von Schlaglöchern und Fahrrinnen durchzogenen Straße vorwärts. Immer wieder kamen die Räder auf vereisten Stellen ins Rutschen, und die Wirklichkeit bohrte sich in seine Gedanken wie Dolche. Jens wappnete sich, seinen Verstand ebenso wie seinen Rücken.
    Heute würde es hart werden, darüber machte er sich keinerlei Illusionen, aber an Härten war er gewöhnt. Er hatte vergessen, wie es war, wenn man es leicht hatte, und dieser Gedanke machte ihn traurig. Stattdessen füllte er sein Denken mit dem herrlichen Bild von dem Luftschiff, wie es silbrig vor einem blauen Himmel glitzerte, seine komplizierte Tragestruktur, die er so sorgfältig entworfen hatte und die wie ein starres Spinnennetz unter der weichen Außenhülle lag. Er rang sich zu einem Lächeln durch. Die letzten Monate waren gut gewesen, besser, als er es sich je hatte vorstellen können, und jetzt war auch noch seine Tochter wieder in sein Leben getreten. Er hatte sie gesehen. Er hatte Lydia wirklich gesehen. Doch selbst das hatte seinen eigenen Kummer mit sich gebracht, denn allein ihr Anblick hatte ihm tief ins Herz geschnitten, weil er ihn an den Verlust seiner Frau, seiner Valentina, erinnerte.
    Er musste gezittert haben, denn Olga nahm seine Hand. Ihr Körper neben ihm kam ihm so schmal und leicht vor, sie fühlte sich mehr wie ein Schatten an als wie ein richtiger Mensch, und manchmal kam in ihm in der Dunkelheit des Lastwagens tatsächlich die Frage auf, ob er sie sich nur einbildete. So wie er sich all seine Entwürfe einbildete. Er drückte ihre Finger, um sich davon zu überzeugen, dass sie wirklich da war – oder wollte er sich nur davon überzeugen, dass er selbst existierte? Manchmal war er sich da nicht sicher.
    Oberst Tursenow hatte klargemacht, dass der Testlauf Wirklichkeit werden würde. Er sollte mit einer vollen Ladung Phosgentanks

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