Die Sehnsucht der Konkubine
aufgingen. Dann rannte er zu dem Luftschiff.
DREIUNDFÜNFZIG
K ommst du, Alexej?«
»Nein, Igor. Geh du. Ich räum hier noch auf.«
»Aufräumen?« Igor schaute sich das Gemetzel an, das sie angerichtet hatten. »Überlass die Scheißkerle doch den Wölfen.«
»Geh, Igor«, sagte Alexej noch einmal. »Du hast deinen Job gut gemacht. Ich werde Maxim Bericht erstatten.«
»Unser pakhan wird wissen wollen, dass du in Sicherheit bist. Man hat mir die Anweisung gegeben, dich zu ihm zurückzubringen.«
Igors Worte klangen höflich, doch Alexej zweifelte keinen Moment lang daran, was wirklich in seinem Kopf vorging. Ganz gewiss konnte der junge Dieb es nicht gutheißen, dass seine Position in der Gunst des pakhan von einem anderen eingenommen wurde. Ja, für Alexej wäre es sogar keine Überraschung gewesen, hätte sich in der vorherigen Verwirrung eine von Igors Kugeln in seine Richtung verirrt.
»Danke, Igor. Aber geh jetzt heim. Mir ist klar, dass die Vergeltungsaktion der Armee nicht lange auf sich warten lassen wird.«
Alexej drehte dem Dieb den Rücken zu und bückte sich, um sich den allerersten Toten anzusehen, der auf der Straße lag. Im Wald war es wieder still geworden, nur der Wind zerrte an den Ästen, und während er sich niederbeugte, spürte er, wie der Wald sich ihm näherte, ihn mit seinem Odem bedrängte, der nach Fäulnis und Tod stank. Schlachtfelder waren immer Orte des Elends und des Kummers, doch ein Schlachtfeld nach einem bedeutungslosen, sinnentleerten Kampf konnte einem Mann durchaus das Herz aus dem Leibe reißen, besonders wenn er derjenige war, der die Schlacht angezettelt hatte.
Die anderen – die Überlebenden – waren gegangen. Die Gefangenen, die beschlossen hatten zu fliehen, hatten den platten Reifen des Lastwagens geflickt und waren durch den Wald zu einer Fahrt ins Ungewisse aufgebrochen. Diejenigen, die dumm genug waren zu glauben, man würde ihnen ihre Loyalität danken, hatten sich nervös in einem kleinen Grüppchen auf dem Weg zum Hangar und im besten Falle einem Leben in Gefangenschaft gemacht. Und die wory hatten sich in die Nacht davongeschlichen wie Ratten. Nur Igor war zurückgeblieben.
»Geh nach Hause, Igor«, wiederholte Alexej.
Doch als er aufblickte, war der Dieb bereits verschwunden und die Straße leer. Nur der schwarze Umriss des ersten Wagens war noch da, und seine Scheinwerfer leuchteten ebenso sinnlos in den Wald hinein, wie es die ganze Aktion gewesen war. Mit großer Sorgfalt fühlte er bei jedem der Soldaten den Puls, und als er keinen fand, schloss er den Toten die Augen und den Mund, nahm ihnen ihre Gewehre ab und legte sie so hin, dass es friedlich aussah und nicht nach einem gewaltsamen Tod. Als er irgendwann das Gefühl hatte, etwas gehört zu haben, fuhr er herum und spähte in die wabernde, atmende Dunkelheit.
»Lydia?«
Keine Reaktion.
»Lydia?«
Doch es war niemand da. Nachdem ihr Vater weggefahren war, hatte sie keine Zeit verloren.
»Warum hast du ihn nicht aufgehalten, Alexej?«
Das war alles, was sie gefragt hatte. Bevor er ihr eine Antwort geben konnte, war sie davongelaufen, leichtfüßig wie eine Gazelle, und auf demselben Wege in den Wald zurückgekehrt, den sie gekommen war. Wie konnte sie dort in der Finsternis überhaupt etwas sehen?
Warum hast du ihn nicht aufgehalten?
Warum?
Weil ein Vater sich seinen Sohn aussuchen sollte. Nicht umgekehrt. Alexej hatte dort gestanden, hatte darauf gewartet, dass sich sein Vater für ihn entschied, aber das hatte Jens nicht getan. Nicht einmal erkannt hatte er ihn. Das hätte eigentlich keine Rolle spielen dürfen, doch das tat es dennoch. Alexej warf einen letzten Blick auf die Toten, murmelte ein Gebet, an das er sich aus seiner Kindheit noch erinnerte, stieg dann in den NAMI -1 und ließ den Motor an. Seine letzten Gedanken galten dem Toten gleich neben der Straße, einem sehr jungen und sehr blonden Soldaten, der aussah, als würde er friedlich schlafen, wenn da nicht das Loch in seiner Brust gewesen wäre. Er hob den jungen Mann auf den Beifahrersitz. Dann stieg er auf der Fahrerseite wieder ein und lenkte das Auto vorsichtig um die gefällte Kiefer herum. Zurück auf der Straße, schlug er den Weg nach Norden ein, hin zu der Backsteinmauer und zu dem Ungeheuer, das sich dahinter verbarg.
»Raus aus dem Wagen!«
Der Befehl war geschrien worden. Der Wachposten am Tor war also nervös. Alexej stieg aus.
»Hier, du Trottel, siehst du nicht, mit wem du es zu tun hast?«
Der
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