Die Sehnsucht der Konkubine
Spaziergang im Park, ohne auf den beißenden Wind und die wuselnde Menschenmenge um sie herum zu achten.
Lydia seufzte, die Ellbogen auf dem Tresen, das Kinn in die Hände gestützt. Alexej hasste den wehmütigen Ausdruck, der in ihre Augen getreten war. Das konnte nur bedeuten, dass ihr schon wieder dieser chinesische Kommunist, Chang An Lo, im Kopf herumspukte. Er stieß sich vom Tresen ab.
»Komm, Lydia, lass uns ein Stück gehen. Das wird uns guttun.«
ACHT
S ie schlenderten umher, bis sich das leuchtende Blau des Himmels in ein mattes Scharlachrot verwandelte. Dieses Licht übergoss alles mit einem weichen, rosa Schein, der die Kargheit der Landschaft Lügen strafte, doch zu Lydias Stimmung passte er. Sie war all die scharfen Kanten leid, das Schwarz und Weiß, das Richtig und Falsch. Sie hatte gedacht, sie kenne sich selbst, wüsste, wo sie selbst aufhörte und andere anfingen. Doch jetzt … jetzt schien es ihr, als wüsste sie gar nichts mehr. Hatte sie sich zu viel vorgenommen? War sie gar nicht so stark, wie sie immer geglaubt hatte? Und wie es auch Chang An Lo immer geglaubt hatte?
»Du hast das Herz einer Löwin«, hatte er ihr einmal zugeflüstert und dabei mit einer ihrer kupferfarbenen Locken gespielt. »Und eine Löwenmähne hast du auch.«
Er hatte die Locke an seine Lippen gehoben, und sie hatte gedacht, er würde sie küssen, doch er tat es nicht. Stattdessen hatte er sie zwischen die Zähne genommen und ganz langsam und betont abgebissen, bis ihr Haar eine Fingerlänge in seinem Mund verschwunden war. Während er das Haar verschluckte, hatte er sie keine Sekunde lang aus den Augen gelassen, und ein Schauder der Erregung war durch ihren Körper gegangen. Sie sah, wie seine Kehle beim Schlucken arbeitete, und stellte sich vor, wie das Haar seinen langen Weg durch seinen Körper antrat.
»Jetzt bist du ein Teil von mir«, hatte er schlicht gesagt und ihr dieses träge Lächeln geschenkt, bei dem ihr stets das Herz stehen blieb.
Sie hatte gelacht und für ihn gebrüllt wie ein Löwe, nach seinem Schlüsselbein geschnappt und war mit den Krallen über die straffe Haut seiner Brust gefahren.
»Lydia?« Das war Alexej. »Bist du noch bei mir?«
Er sagte es leichthin und mit einem Lachen, doch hinter seinen Worten war deutlich seine Sorge, seine Ungewissheit zu spüren. Von dem Moment an, als sie vor der Druckerei den Fuß auf den Gehsteig gesetzt hatten, hatte sich Alexej bei ihr eingehängt und auf ihrem Weg durch die Stadt ein strammes Tempo vorgelegt. Er lenkte sie vorbei an der Lenin-Bibliothek mit ihren beeindruckenden Säulen und in einen ruhigen Park hinein, der von kiesbestreuten Wegen durchzogen und mit einem schmucken Zaun begrenzt war. Die schwungvollen Rundungen des Schmiedeeisens sahen in Lydias Augen aus wie offene Münder, was unweigerlich wieder die Bilder des Arbeitslagers aufsteigen ließ.
Sie legte den Arm fester um den ihres Bruders. Der Park war menschenleer und wirkte trotzdem belebt, denn es herrschte ein großes Rauschen und Rascheln um sie herum, wenn der Wind an den Ästen der Bäume zerrte oder ein Zeitungsblatt um den Sockel der Statue in der Mitte jagte. Leere Zigarettenschachteln und Erdnussschalen wirbelten um ihre Füße, und Alexej redete ununterbrochen. Was er sagte, tröstete und beruhigte sie, ein steter Fluss von Worten, die die Stille außer Kraft setzten und ihrem Verstand den Halt gaben, den er in diesem Moment brauchte. Schritt für Schritt legte er noch einmal dar, was sie sich vorgenommen hatten.
Alexej tätschelte seinen Bauch, wo er unter seinem Hemd den Geldgürtel trug, und lächelte sie an. Es war ein anderes Lächeln als sonst, ohne die Distanziertheit, mit der er so oft seine Gedanken in Schach hielt. Sie hatten den Park verlassen und gingen jetzt eine Straße entlang durch ein Viertel, in dem die Häuser kleiner waren, aber hübsch geschnitzte Fensterläden besaßen.
»Wir haben Geld«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Wir haben Diamanten, wir haben neue Ausweispapiere für unseren Vater. Wir sind gut vorbereitet, Lydia.«
»Ich weiß.«
»Es war uns immer bewusst, dass es gefährlich ist, die Wachen im Lager zu bestechen. Den Richtigen zu suchen, einen, der gierig genug ist, seine Seele zu verkaufen und alles zu riskieren – sogar seine Hinrichtung –, um …«
»Ich weiß. Ich weiß.« Der Wind schnappte nach Lydias Worten.
»Es wird uns Zeit kosten«, sagte er ruhig. »Wir können – wir dürfen einfach keine Risiken eingehen, indem
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