Die Sehnsucht der Konkubine
doch in einem Kerker in Ketten legen, es war ihr egal. Sie wandte den Blick ab, und noch einmal schaute ihr eigenes Spiegelbild ihr aus dem stockfleckigen Spiegel entgegen. Sie stieß einen leisen Fluch aus.
»Tschort!«
Das Mädchen dort im Spiegel, das war nicht sie. Ganz gewiss war sie das nicht. Dieses Mädchen dort sah schrecklich niedergeschlagen aus, das herzförmige Gesicht schmal. Ihre Augen blickten argwöhnisch, und das Haar leuchtete fast zu auffällig. Rasch zog Lydia die blöde Mütze aus ihrer Tasche, stülpte sie sich wieder auf den Kopf, obwohl sie sich in einem geschlossenen Raum befanden, und schob die Haare mit ein paar heftigen Bewegungen hinter die Ohren und unter den wollenen Rand.
»Alexej«, sagte sie und stellte fest, dass er sie mit jener kühlen Forschheit musterte, in der er ein solcher Meister war. »Wenn du es zulässt, dass dir Popkow heute Abend nicht von der Seite weicht, dann verspreche ich dir, dass ich in meinem Zimmer bleibe und keinen Fuß vor die Tür setze, bis du wieder da bist.«
Würde er ihr danken? Würde er es zu schätzen wissen, dass zur Abwechslung einmal sie ihm ein Angebot zur Güte machte?
Ein träges, aufreizendes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, und für den Bruchteil einer Sekunde war sie töricht genug zu glauben, er würde lachen und auf ihr Angebot eingehen. Stattdessen jedoch legte sich ein eisiges, misstrauisches Grau über seine grünen Augen, das sie an den Peiho-Fluss in Tschangschu erinnerte.
»Lydia«, sagte er so leise, dass kein Außenstehender die sorgfältig verhohlene Wut in seiner Stimme gespürt hätte. »Du lügst mich an.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging den niedrigen Flur entlang, der zur Treppe führte. Ihre Absätze klapperten auf den Dielenbrettern. Alexej machte sie so wütend, dass sie am liebsten ausgespuckt hätte.
NEUN
L ydia blieb wie versprochen auf ihrem Zimmer. Sie wollte nicht, aber sie tat es. Nicht etwa, weil sie ihm ihr Wort gegeben hatte – ja, hier hatte Alexej Recht gehabt: In der Vergangenheit hatte sie sich von etwas so Trivialem wie einem Versprechen nicht abhalten lassen –, sondern weil Alexej nicht geglaubt hatte, dass sie es wirklich halten würde. Sie würde ihm das Gegenteil beweisen.
In dem Zimmer war es finster und eiskalt, aber es war sauber. Zwei schmale Betten waren auf kleinstem Raum aufgestellt, doch bislang hatte niemand das zweite Lager in Anspruch genommen. Mit ein wenig Glück würde es leer bleiben. Ein Spiegel hing an einer Wand, aber Lydia achtete darauf, nicht hineinzuschauen. Immer noch in Mantel und Mütze ging sie in dem Zimmer grübelnd auf und ab.
Sie versuchte, sich auf Alexej zu konzentrieren, sich ihn vorzustellen, wie er für den abendlichen Ausgang den Mantel anzog, wie er sich mit jenem forschen, ja fast begierigen Ausdruck im Spiegel betrachtete, der immer dann in seine Augen trat, wenn er sich etwas Wichtiges vorgenommen hatte. Zwar bemühte er sich stets, ihn zu verbergen, und oft genug hatte sie ihn dabei ertappt, wie er ihn überspielte, indem er gähnte oder sich beiläufig durch das Haar fuhr, als langweilte ihn die Welt um ihn herum. Doch sie wusste es besser. Diesen Blick kannte sie.
Ihre Schritte beschleunigten sich, und sie trat so fest gegen den Rahmen des Bettes, dass ihr ein heftiger Schmerz durch das Bein fuhr. Alles, um ihre Gedanken von Jens Friis fernzuhalten. Stattdessen sah sie wieder die Frau des Kommandanten vor sich, ihre verletzten Arme und das anmutige Schwingen ihres Pelzmantels, als sie sich auf dem Bahnsteig von ihr abgewandt und weggegangen war.
Weggegangen. Wie kannst du das tun? Wie kannst du einfach weggehen?
Wut durchströmte Lydia. Sie war sich nicht sicher, woher sie kam, doch mit Antonina hatte dieser Zorn nichts zu tun. Sie spürte, wie ihre Wangen brannten und sich ihr Magen verkrampfte, so sehr, dass sie mit den Fingern nach einem ihrer Mantelknöpfe griff und ihn derart fest drehte, dass er abriss. Das fühlte sich schon besser an. Sie hielt den Knopf ganz fest und versuchte, das elende Gefühl zu verdrängen, das sich ihrer bemächtigt und einen tiefen Keil in sie hineingetrieben hatte, als sie zum ersten Mal die Gefangenen aus dem Arbeitslager erblickt hatte. Jene Männer, die wie Zugtiere einen Wagen über den vereisten, mit Felsbrocken übersäten Boden geschleppt hatten. Nein, schlimmer noch als Tiere, denn Tiere sterben nicht an Scham. Selbst aus der Entfernung hatte Lydia sie gespürt, diese Scham, und hatte
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