Die Sehnsucht der Konkubine
Frau würde denken, es liege am Alkohol.
»Ha! Verstehe.« Mit Augen, die vor Vorfreude leuchteten, verschränkte Elena die Hände hinter dem Kopf, was ihren Busen auf alarmierende Weise anschwellen ließ. »Also, wer ist es?«
»Wer ist wer?«
»Der, der deine Wangen zum Glühen bringt und deine Augen zum Schmelzen, wie Butter in der Sonne. Allein bei dem Gedanken an ihn werden dir die Knie weich.«
»Da gibt es niemanden. Du täuschst dich.«
»Wirklich?«
»Da.« Einen Moment lang ruhten die Augen mit einem leicht feindseligen Blick auf ihr, dann wandte sich Lydia wieder ihren Habseligkeiten auf dem Bett zu und nahm die Haarbürste in die Hand. »Es gibt niemanden«, sagte sie wieder.
Sie konnte hören, wie die Frau abermals die Flasche ansetzte, hörte das Gluckern der Flüssigkeit, das dann jedoch vom resoluten Zudrehen des Schraubverschlusses auf die Flasche gefolgt wurde. Das überraschte sie. Eine Weile sprach keine von beiden, und in Lydia begann die Hoffnung aufzukeimen, dass ihre Besucherin vielleicht gehen würde.
»Ich hab ihn weggegeben.« Elena sprach mit geschlossenen Augen. Ihre Wimpern, die lang und dicht auf ihren Wangen lagen, waren viel dunkler als ihr Haar. »Ich hab zugelassen, dass sie ihn mitnehmen. Welche Mutter tut das schon?«
»Du meinst deinen Sohn, den im Lager. Wie hieß er?«
»Daniil.«
»Das ist ein schöner Name.«
Elena lächelte, mit immer noch geschlossenen Augen, und Lydia war sich sicher, dass sie ihn vor sich sah.
»Sah er gut aus?«
»Ihr jungen Mädchen seid doch alle gleich, ihr wollt immer bloß, dass ein Mann groß, dunkelhaarig und gut aussehend ist.«
Plötzlich stand Chang An Lo vor Lydias innerem Auge, und ihr Mund wurde trocken.
»Ich bin zweiundvierzig«, sagte Elena. »Ich war sechzehn, als ich Daniil bekommen habe, und schon ein ganzes Jahr im Bordell. Vier Wochen durfte ich ihn behalten, aber dann …« Sie machte abrupt die Augen auf. »Für ihn war es besser, eine richtige Familie zu haben.«
»Wusste er es?«
»Das mit mir, meinst du?«
»Ja.«
»Nein, natürlich nicht. Aber«, Elenas blassblaue Augen leuchteten, »ich fand heraus, wo er wohnte, und beobachtete, wie er aufwuchs. Stand vor seiner Schule herum und sah ihn später durch die Stadt marschieren, zuerst als Junger Pionier und dann als einer von Stalins Komsomolzen.«
Lydia streckte die Hand aus und berührte die Frau ganz kurz an der Hand. »Damals bist du bestimmt stolz auf ihn gewesen.«
»Ja, das war ich. Aber jetzt nicht mehr. Ich möchte nur noch vergessen.«
»Können denn Eltern ihre Kinder jemals vergessen?«
» O ja. Du musst mit deinem eigenen Leben weitermachen. Was sind Kinder denn überhaupt? Nur ein Klotz am Bein.«
»Ich dachte, dass …« Lydia unterbrach sich, trank den letzten Schluck ihres Schnapses und fragte stattdessen: »Weiß Liew es?«
»Ob er was weiß?«
»Das mit deinem … Beruf?«
Die Frau lächelte, und dieses Mal lag eine Herzenswärme in diesem Lächeln, dass Lydia klar wurde, warum Männer diese Frau vielleicht mochten.
»Natürlich nicht«, sagte Elena entrüstet.
»Warum hast du es dann mir erzählt?«
»Ja, warum eigentlich? Ganz schön blöd.«
»Du magst so manches sein, aber blöd auf keinen Fall.«
Elena lachte und setzte sich auf, um die kleine Ansammlung von Habseligkeiten auf dem Bett zu betrachten. Plötzlich wurde Lydia bewusst, wie ärmlich der Inhalt ihrer Reisetasche wirken musste.
»Also, was für ein Buch liest du da?«, erkundigte sich Elena.
»Die Gedichte von Marina Zwetajewa. Kennst du die?«
»Nein.«
»Möchtest du es dir ausleihen?« Lydia nahm das Buch, das von der langen Reise ramponiert und abgegriffen war, in die Hand, und bot es ihrer Besucherin an.
Elena schloss die Augen und seufzte. »Ich bin zu müde.«
Lydia kam der Gedanke, dass Elena vielleicht, wie so viele Frauen in Russland, gar nicht lesen konnte. »Wenn du müde bist«, sagte sie, »möchtest du dann, dass ich dir etwas daraus vorlese?«
»Da« , lächelte die Frau. »Das würde mir gefallen. Dein Russisch ist ausgezeichnet.«
Lydia schlug das Buch auf und begann zu lesen.
Geräusche drangen zu ihr in das Zimmer. Das Miauen einer Katze. Das Klicken von Wasserrohren. Das Rumpeln von Wagenrädern. Geräusche, die Lydia das Wissen schenkten, dass sie am Leben war, obwohl sie sich dessen manchmal gar nicht so sicher war. Ganz leise, um die schlafende Frau auf dem Bett neben ihr nicht zu wecken, packte sie all ihre Sachen in die
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