Die Sehnsucht der Konkubine
Leder und seinen Nadeln. Geschickt wickelte sie die Waffe wieder ein und schob sie verstohlen in die Holzschachtel mit dem Stickzeug neben ihrem Stuhl.
Er trat näher zu ihr. »Das bleibt unter uns«, sagte er. »Für dich.«
Sie nickte, und zum ersten Mal beugte sie sich zu ihm hinüber, nach Sandelholz duftend, und küsste ihn auf die Wange. Einen kurzen Moment lang streiften ihn ihre trockenen Lippen.
»Und für Si-qi«, hauchte sie.
Si-qi war groß, hatte lange, dünne Beine und einen Holzfuß. Doch den Fuß bemerkte man kaum, denn ihr Gesicht zog die Aufmerksamkeit der Männer auf sich wie ein Topf Honig Bären. Während das Gesicht ihrer Mutter breit war, war ihres schmal und zart, ihre Haut so weiß wie frische Sahne, und ihre Augen blickten weich und geduldig. Sie trug ein blassblaues Kleid und saß auf einer Bank unter einem Feigenbaum, den dunklen Kopf über Papiere gebeugt.
Beim Anblick Changs begann sie zu weinen.
Er verbeugte sich vor ihr. »Keine Tränen, meine schöne Si-qi, schau, was ich dir mitgebracht habe.« Er lachte und zog ein Buch aus seiner Satteltasche. »Um dein Englisch zu verbessern.«
Jedes Mal, wenn er während der Jahre Hu Tai-wai besucht hatte, hatte er viel Sorgfalt darauf verwandt, Si-qi Englisch beizubringen. Mit nur einem gesunden Fuß – den anderen hatte sie als kleines Mädchen nach einem Schlangenbiss verloren – würde es für sie schwer sein, ein Auskommen zu finden, und weder er noch ihr Vater wollten, dass sie später von einem Ehemann abhängig sein würde. So waren sie auf die Idee gekommen, dass sie Übersetzerin werden sollte. Si-qi war von schnellem Verstand, konnte sich Dinge gut merken und war lernbegierig. Obwohl er sich manchmal fragte, ob sie es wirklich für sich selbst tat … oder für ihn.
»Xie xie« , sagte sie schüchtern. »Vielen Danke. Das Dschungelbuch von Rudyard Kipling.« Ihre Augen glänzten vor Freude, und er wünschte, er hätte ihr mehr als nur ein Buch mitgebracht.
»Es handelt von einem kleinen Jungen, der im Dschungel von Wölfen aufgezogen wird.«
Sie warf ihm unter den langen Wimpern einen schelmischen Blick zu. »Denkst du, das ist es, was auch dir passiert ist? Dass du bei uns kommunistischen Wölfen aufgezogen wurdest?« Sie lachte, und beim Klang dieses Lachens stockte ihm aus irgendeinem Grund der Atem.
»Wenn das Haus deiner Eltern ein Dschungel war, dann warst du immer die goldene Blume, die uns mit ihrem betörenden Duft verzaubert hat.«
Wieder lachte sie vergnügt, schwenkte ihr langes Haar, das wie ein üppiger Samtvorhang bis über ihre Schultern hing, und schlug das Buch auf. Er setzte sich neben sie, und zusammen begannen sie zu lesen, Wort für Wort, Seite um Seite, und die ganze Zeit war er sich ihrer Nähe bewusst, ihrer Weichheit, und der Tatsache, was für eine wundervolle Frau sie ihm sein könnte.
Nur einmal fragte sie flüsternd: »Hast du etwas von meinem Bruder Biao gehört?«
»Nein. Leider nicht.«
Ihre Augen wurden dunkel vor Enttäuschung, und sie wandte sich wieder dem Buch zu.
Es war nur eine winzige Bewegung, die er wahrgenommen hatte. Das war alles. Als wäre Kaa, die Schlange, ganz still und heimlich aus den Seiten des Buches gekrochen. Chang hob den Kopf und lauschte.
»Was ist?«, fragte Si-qi leise.
Er schüttelte den Kopf, damit ihm auch das kleinste Geräusch nicht entging. Der Himmel hatte sich verfärbt und goss eine prachtvolle Mischung aus Rot, Gelb und geheimnisvollen Purpurtönen über die Dächer. Insekten surrten in dichten Schwärmen durch die Luft, und aus dem Dschungel kam ein sonderbares Kreischen, wie von Geistern.
War es das, was er gehört hatte? Die typischen Geräusche des Abends?
Si-qi berührte ihn. Ganz warm und federleicht lag ihre Hand auf seiner Haut. »Was ist denn?«
Doch Chang war bereits aufgesprungen, hatte sich die Satteltasche über die Schulter geworfen und bewegte sich auf das andere Ende des Hofes zu, wo sich eine Holztür auf eine Seitengasse öffnete. Er drückte auf die Klinke, aber die Tür war verschlossen. Als er zwei Schritte zur Seite machte, um für einen Sprung auf die Mauer Schwung zu holen, flog mit einem lauten Krachen die Haustür auf. Hu Tai-wai und Yi-ling wurden von einem Trupp von fünf Soldaten in den Garten geführt. Sie trugen die rote Armbinde von Maos Armee.
»Chang An Lo«, sagte ihr Anführer mit fester Stimme, doch auch mit unverhohlenem Respekt. »Ich muss mich für die Störung entschuldigen, doch du wirst nach Guitan
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