Die Sehnsucht der Konkubine
Jedenfalls nicht hier. Dieser kleine Berg Baumstämme wartete offenbar darauf, auf die Ladefläche eines Güterwaggons verfrachtet und per Zug zu einem Holzlagerplatz gebracht zu werden.
Ein Wagen rumpelte in quälend langsamem Tempo über das flache Gelände, weit entfernt, aber offenbar mit den toten Gliedmaßen als Ziel. Er war mit einer weiteren Fuhre Holz beladen. Lydia kniff die Augen zusammen und versuchte, die winzigen menschlichen Gestalten zu zählen, die vor den Wagen gespannt waren, doch sie waren zu weit weg. Sie blinzelte und zählte wieder. Es mussten mindestens zwanzig sein. Konzentriert hielt sie den Blick darauf.
»Genossin.« Es war der Mann im Anzug, ihr Freund mit der Taschenuhr. Diesmal klang seine Stimme barsch. »Mach das Fenster zu, poschaluista .«
Sie hatte ihn gar nicht gehört. Er berührte sie am Arm, um sie auf sich aufmerksam zu machen, schickte sich an aufzustehen, um das Fenster selbst zu schließen, doch bevor er das tun konnte, hatte Lydia aus ihrer Schultertasche zwei kleine, scharlachrote Päckchen gezogen. Jedes bestand aus einem Kopftuch, in das etwas Schweres hineingebunden war.
»Hör mal, Genossin …« Langsam verlor der Mann die Geduld.
Sie hatte einen Trupp Gefangene entdeckt, nur vier von ihnen, die ein paar hundert Meter von der Bahnlinie entfernt zu Gange waren. Sie hatten Schaufeln in der Hand und räumten offenbar Steine weg, vielleicht machten sie den Weg für den Wagen mit den Stämmen frei. Lydia riss sich den roten Schal vom Hals, lehnte sich, so weit sie konnte, aus dem Fenster und winkte ihnen mit dem bunten Stück Stoff zu. Hin und her, vor und zurück, um die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu lenken.
»Poschaluista« , flehte sie. Bitte, schaut auf.
Rußpartikel von der Lok flogen ihr ins Gesicht. Die Gestalten kamen näher. Keiner von ihnen blickte von seiner Schaufel auf. Wollten die keine menschlichen Gesichter an den Zugfenstern sehen? War der Anblick der Freiheit einfach zu schmerzlich? Hundert Meter. Näher würde sie an die Gefangenen nicht herankommen. Sie zog den Arm zurück und schleuderte eines der scharlachroten Bündel aus dem Fenster. Während es wie ein Vogel mit leuchtend rotem Gefieder durch die Luft flog, ließ sie die Männer keinen Moment lang aus den Augen und stieß mit einem unheimlichen Zischen die gesamte Luft aus ihrer Lunge. Keiner von ihnen schaute in ihre Richtung.
Hörten sie nichts? Oder war es ihnen gleichgültig?
Der rote Vogel landete auf einem Felsbrocken, prallte ab und wurde auf ein Stück offenes Gelände geschleudert, wo er schließlich zwischen den abgestorbenen Wurzeln eines Baumstammes liegen blieb. Nein, nein, nein. Lydias Mund stand offen, Ascheflocken aus der Lok brannten auf ihrer Zunge.
»Lass das, Genossin.« Diesmal war es der Mann mit der Mütze, der geschlafen hatte. Jetzt jedoch war er hellwach und wütend. »Was du da machst, ist gegen das Gesetz. Hör sofort damit auf, oder …«
»Oder was?« Ein junger, schlaksiger Soldat, der die ganze Zeit mucksmäuschenstill neben Lydia gesessen hatte und dem sie bisher kaum mehr als einen Blick geschenkt hatte, richtete sich von seinem Platz auf und stellte sich hinter sie ans Fenster. »Oder was?«, wiederholte er.
Ein Kichern ging durch die Gruppe der anderen Soldaten, und einer warnte: »Leg dich mit dem nicht an, Genosse. Das ist unser bester Boxer.«
Lydia hob den Arm, um auch das zweite Bündel hinauszuwerfen.
»Darf ich?«
Der Soldat streckte ihr seine grobknochige Hand hin, die Handfläche nach oben, und wartete mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen. Lydia bemerkte, dass ihm erst vor Kurzem jemand die Nase gebrochen hatte, doch der Bluterguss war bereits verblasst und hatte ein schlammiges Gelb angenommen. Sie wartete nur so lange, wie die Zugräder für eine Drehung brauchten, reichte ihm dann das kleine Päckchen und zog sich auf ihren Sitz zurück, damit er Platz zum Ausholen hatte. Er grinste ihr zu, warf seine Armeemütze auf den Sitz, schob die breiten Schultern aus dem Zugfenster und zielte. Und dann schleuderte er das rote Bündel mit einem lauten Ächzen aus dem Zug.
Es segelte gemächlich durch die Luft, als wüsste es noch nicht, wo es landen sollte. Lydia ließ es nicht aus den Augen, denn ihre ganze Hoffnung lag in dem zusammengeknoteten Kopftuch. Das Bündel flog über die Felsen hinweg, schwebte einen Moment lang in der Luft und landete in einem anmutigen Bogen auf der Erde. Es prallte nicht einmal ab, sondern blieb
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