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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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spürte voller Staunen, wie schwer sie war.
    »Sie ist aus Gold«, erklärte er.
    Sie betrachtete sie aufmerksam, die feine Gravur des Zifferblatts und die filigranen Zeiger, so zart wie eines ihrer Haare, und als er sie hinten aufklappte, war Lydia wie verzaubert von den Bewegungen der kleinen Zahnrädchen. Von hier kam also die tickende Stimme der Uhr.
    »Ich dachte, du müsstest zum Zug, Jens.«
    Es war die Stimme ihrer Mutter, neckend, und sie streckte eine Hand nach ihm aus, als könnte ihre Haut es ohne eine Berührung von ihm keine Sekunde mehr aushalten. Ihr dunkles Haar schwang frei um ihre Schultern, genau so, wie er es mochte. Papa richtete sich auf, und Lydia sah, wie es geschah. So, wie es immer geschah. Papa kam nach Hause, schlecht gelaunt oder ungeduldig oder müde, und dann fiel sein Blick auf Mama, und etwas in ihm begann zu leuchten und brannte all die schlechte Laune und die Ungeduld und die Müdigkeit weg.
    Ihre Mutter nahm ihr sanft die Uhr aus der Hand und reichte sie Papa. Dabei murmelte sie: »Sie ist zu jung, um damit zu spielen.« Doch Papa schenkte Lydia ein verschwörerisches Lächeln und blinzelte ihr zu. Und dann waren sie am Bahnhof, um sie herum lauter Geräusche und Gerüche, Rufe und bergeweise Gepäck. Und Tränen. Lydia wurde bewusst, dass dies ein Ort war, an den die Erwachsenen kamen, um zu weinen. Papa umarmte und küsste sie und bestieg dann den Zug, rief ein paar letzte Worte durch das offene Zugfenster, während sich der Zug inmitten einer großen Dampfwolke in Bewegung setzte. Etwas Rotes. Sie versuchte, die Erinnerung zu durchforsten, doch irgendwie war sie trübe geworden. Dennoch war Lydia sich sicher, sich an etwas Rotes erinnern zu können. Und dann fiel es ihr ein. Ein rotes Taschentuch flatterte in seiner Hand, auf und ab, bis es nicht mehr war als ein winziger roter Punkt in der Ferne. Wie ein kleiner Blutfleck.
    Mama weinte, betupfte sich die Augen, doch Lydia weigerte sich, Tränen zu zeigen. Die Zahnrädchen in Papas Manteltasche drehten sich immer noch. Es waren die Zahnräder der Zeit, viele kleine Zähnchen, die ineinandergriffen und die Zeiger der Uhr in Bewegung hielten. Diese Zahnräder würden ihn zu ihr zurückbringen. Sie ballte die kleinen Fäuste und lauschte den Stimmen, die in ihrem Kopf tickten und flüsterten.
    Die Arbeitszone des Lagers war nach wie vor da.
    Sie war nicht geräumt worden.
    Das war ihre Befürchtung gewesen. Dass die Gefangenen weg waren. Dass sie ihre Sägen und Äxte und die Karren für die Baumstämme an einer anderen Stelle aufgeschlagen hatten, weit weg von der Bahnlinie. Sie erschauderte, doch das lag nicht an der Kälte im Waggon, es war vor Erleichterung. Sie spürte, wie sich die goldenen Härchen an ihrem Arm aufrichteten, und drückte die Stirn an die eiskalte Fensterscheibe, als würde sie das ihm näher bringen. Die Landschaft draußen war so flach und mit vereisten Schneeflächen übersät. Weite Strecken des Landes waren komplett gerodet worden, so dass man überall den felsigen Untergrund sah, wodurch das Gelände nicht mehr in Tausenden von Schattierungen von Grün oder Rotbraun leuchtete, sondern das erbarmungslose Grau von Kriegsschiffen angenommen hatte.
    War das auch mit Papa geschehen? Dass er das sowjetische Grau angenommen hatte? Sie legte die Hand gegen die Fensterscheibe, um sich gegen den Anblick der eintönigen Uniformen abzuschirmen, die sie umgaben.
    Papa, ich bin hier. Die Zahnräder haben mich zu dir gebracht. Die Räder drehen sich immer noch.
    Lydia erhob sich und zog so heftig an dem Lederband, dass das Zugfenster schwungvoll nach unten rutschte und mit einem Klirren unten auftraf. Der Schwall eisiger Luft, der hereinkam, nahm ihr fast den Atem, und um sie herum erhob sich eine Mischung aus Stöhnen und lauten Beschwerden.
    »Fenster zu!«
    »Ist arschkalt!«
    »Bist du vollkommen von Sinnen, Mädchen? Mir fallen die Eier ab.«
    Sie nahm den Aufruhr kaum wahr, denn ihre ganze Aufmerksamkeit war auf das Gelände gerichtet, während in der Ferne langsam die Spitzen der Wachtürme in Sicht kamen. Zuerst konnte sie keinerlei menschliche Gestalten entdecken, die am Waldrand arbeiteten. Das Herz sank ihr in der Brust, doch in diesem Moment wurde der Zug langsamer und zuckelte an einem riesigen Stapel Kiefernstämmen vorbei, die aussahen wie die Gliedmaßen von Toten. Lydia war davon ausgegangen, dass das Holz stromabwärts transportiert wurde, wie sie es schon in China gesehen hatte, aber nein.

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