Die Sehnsucht der Konkubine
Ängste immer konkreter. Mittlerweile war sich Lydia sicher, dass er zum Arbeitslager hinausgefahren war, nachdem er bei seinem Streifzug durch die Kneipen etwas in Erfahrung gebracht hatte. Und er hatte beschlossen, es ohne sie zu machen.
Ich arbeite besser ohne dich.
Das hatte er gesagt. Ganz klar hatte er es gesagt, als er damals an ihrer Tür stand, verärgert über ihre Bitte, mit ihm gehen zu dürfen, und dann hatte er sich eben auf eigene Faust zu dem Arbeitslager hinausgeschlichen, wahrscheinlich auf einem Lastwagen, dessen Fahrer er bestochen hatte. Er würde ihren Vater finden und irgendwie aus Russland herausschaffen, bevor sie auch nur in Kontakt zu ihm treten konnte, und Jens würde denken, er sei ihr gleichgültig, und dann würde er wieder mit Alexej durch die Wälder reiten, während sie …
Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, um es nicht hinauszuschreien. Sie musste Jens unbedingt finden, bevor er verschwand, es gab so vieles, was sie ihn fragen musste. Papa, warte auf mich, bitte, ich habe dich nicht im Stich gelassen.
»Geh nicht.«
»Das ist schon in Ordnung, Elena.«
»Ha!«
»Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
Elena zog ein finsteres Gesicht. »Du bist gut darin, mir das weiszumachen, ja. Aber du bist nicht gut genug.«
Lydia schnaubte ungeduldig, und ihr Atem stieg in einer trägen Schleife in die klirrend klare Luft empor. Sie standen am Bahnhof von Felanka, auf einem Bahnsteig zusammengepfercht mit vielen Soldaten in Uniform auf der Durchreise. Alle warteten mit einer Engelsgeduld, die Lydia verblüffte. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie ständig in Bewegung bleiben musste und von einem Ende des Bahnsteigs zum anderen hin- und herwanderte, wobei sie sich nur mit Mühe einen Weg durch die Menge bahnen konnte. Der Bahnhof schien sich fest in Männerhand zu befinden, nur tiefe Stimmen und lautes, männliches Gelächter waren zu hören. Es roch sogar anders.
Soldaten hatten sich auf ihren Armeeseesäcken ausgestreckt oder hockten darauf, und wenn Lydia an ihnen vorbeikam, befanden sich ihre Hüften auf Augenhöhe der Männer. Alle starrten sie an. Manchmal streckte einer sogar die Hand aus und berührte sie am Knöchel, oder er warf wie zufällig den Kopf in den Nacken, damit sie ihn beim Vorübergehen mit dem Rock streifte. Alles andere als ein Zufall war es jedoch, dass Elena ihr direkt auf den Fersen war und jedem, der es wagte, Lydia zu berühren, mit dem Schirm eins überzog. Lydia musste lächeln. Selbst ihre Mutter hätte dergleichen nicht getan. Dazu gehörte Mut.
»Jedenfalls weißt du, wie man mit Männern umgeht«, sagte Lydia.
»Aber ich muss mir was wegen Liew ausdenken, wenn er erfährt, dass du ganz allein einen Zug genommen hast.«
»Ich habe für die Fahrkarte drei Tage Schlange gestanden.«
»Sag ihm das selbst.«
»Ich sehe ihn momentan kaum, nur wenn er schläft.«
»Das liegt daran, dass er Tag und Nacht unterwegs ist, um etwas über deinen verdammten Bruder herauszufinden.«
»Ich weiß.«
Lydia sah ihn vor sich, wie er die Kneipen abklapperte, trank und in den einsamen Seitengässchen raufte, um auch das leiseste Gerücht über den Verbleib von Alexej in Erfahrung zu bringen. Ach Popkow, du magst den Mann nicht mal.
»Ich komme zurück«, versprach sie. »Bevor er auch nur merkt, dass ich weg bin.«
Diesmal war Lydia vorbereitet. Sie wusste, was sie zu erwarten hatte. Ihre Atemluft beschlug das Zugfenster, und sie fuhr mit dem Ärmel ihres Mantels darüber, um es freizuwischen. Sie wollte, dass nichts – nitschewo – zwischen sie und das, was da draußen lag, kam. Dicht an dicht zogen Kiefernwälder an ihnen vorbei, die Äste schwer mit Schnee beladen, auf dem die Sonne funkelte, ein Anblick, der im beiläufigen Beobachter vielleicht den Eindruck geweckt hätte, es sei warm draußen. Doch Lydia wusste es besser. Es gab so viele Dinge, die sie gelernt hatte und die sie jetzt besser wusste.
In dem Zugabteil war es voll, und sie war die einzige Frau. Du hast gewusst, wie es sein würde. Also beklag dich nicht, jammere nicht. Jedenfalls war die Situation beklemmend. Zwei Reihen Sitze lagen sich gegenüber, und die Gepäcknetze wurden von den schweren Seesäcken der Soldaten so tief heruntergezogen, dass man Angst hatte, das dünne Gewebe würde jeden Moment reißen. Die Soldaten, eingehüllt in ihre Uniformmäntel, rochen nach Tabak und nahmen in dem kleinen Abteil viel zu viel Platz weg. Auch ihre Stiefel waren zu groß und ihre Witze zu laut.
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