Die Sehnsucht der Konkubine
auf eine Hand voll Haar, das mit Nadeln zu einem kunstvollen Nest hochgesteckt war. Alexej erkannte es sofort wieder, obwohl er einen Moment lang nicht mehr wusste, wer die Frau war.
Es war Nachmittag und ein grauer Tag. Grau wie Eisen, sagte er sich mit einem ironischen Lächeln, passend für eine Stadt des Eisens. Er ging die Hauptstraße von Felanka entlang, wobei er größere Gebäude mied und den Schneehaufen aus dem Weg ging, die sich am Straßenrand türmten. Sein Ziel war das schlechtere Viertel der Stadt, wo die Straßenhändler billige Ware feilboten. Er war müde. Erschöpft und hungrig. Seit zwei Tagen hatte er fast nichts gegessen, weil er versuchte, sich die paar Rubel aufzusparen, die tief in seiner Tasche verborgen waren.
Genau auf diesem Weg erblickte er das Haar der Frau, und den silbrigen Pelzmantel, der beim Gehen hin- und herschwang. Sie stand an der Bordsteinkante und versuchte, die viel befahrene Straße an einem der Punkte zu überqueren, wo man zur Bequemlichkeit der Fußgänger den Schnee beiseitegeräumt hatte. Während sie nach rechts und links schaute, um den Verkehr abzuschätzen, trafen sich ihre Blicke einen flüchtigen Moment lang.
Er konnte nicht mehr klar denken. Die Infektionsherde in seinem Körper und das Fieber hatten ihren Tribut gefordert, und seine Reaktionen waren langsam. Hätte er etwas zu essen gehabt, etwas, das ihm die Kraft gegeben hätte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, dann wäre vielleicht das, was folgte, ganz anders ausgegangen. Die Frau sah zu ihm herüber, trat dann von der Bordsteinkante weg und kam auf dem gefrorenen Bürgersteig direkt auf ihn zu, so zielstrebig, dass er wusste, sie wollte etwas von ihm.
»Na, du siehst ja schlimm aus«, sagte sie.
Das war nicht ganz die Begrüßung, mit der er gerechnet hatte. Ohne ein Lächeln schaute sie ihn von oben bis unten an, und erst in diesem Augenblick fiel ihm wieder ein, zu wem das dunkle Haar gehörte. Zu der Frau des Lagerkommandanten.
» Dobry den , guten Tag«, erwiderte Alexej. »Es überrascht mich, dass du mich wiedererkennst.« Er fuhr sich mit der Hand durch den wuchernden Bart. »Du hingegen«, fügte er galant hinzu, »bist unvergesslich.«
»Keine Lügen, bitte. Zuerst wusstest du überhaupt nicht, wo du mich hinstecken solltest.«
»Ich muss mich entschuldigen. Ich war krank.«
»Das sieht man.«
»Du dagegen siehst eleganter aus als je zuvor.«
»Ich war gerade beim Friseur. Gefällt es dir?« Sie tätschelte die aufgesteckten Locken und verzog die geschwungenen Lippen zu einem Lächeln, das um Bestätigung heischte.
»Sieht wundervoll aus.« Er wies vage die Straße hoch. »Besonders hier. Du bringst Farbe in die Gegend.« Er musterte ihr sorgfältig geschminktes Gesicht mit den schmalen Wangenknochen und den tief liegenden Augen, die sich irgendwie zu verbergen schienen. »Du bringst Stil in die Straßen von Felanka.«
Sie lachte, doch es war ein einstudiertes Lachen, mit dem sie keinen von ihnen täuschen konnte. Alexej schätzte, sie war etwa fünf Jahre älter als er, wahrscheinlich Anfang dreißig, aber an ihr war etwas Zerbrechliches, das so gar nicht zu dem Illustriertenlächeln und dem selbstbewussten Gang passen wollte. Rasch steckte er die Hand in die Tasche und befühlte das armselige Bündel Rubel, das ihm noch geblieben war.
»Genossin«, sagte er. »Es wäre mir eine Ehre, dir etwas zu trinken zu spendieren.«
»Ich suche nach dem Mädchen, mit dem du in Seljansk zusammen warst.«
»Sie ist weg«, sagte Alexej.
»Scheint so.«
»Warum das Interesse an ihr?«
»Sie hat mich um etwas gebeten. Das ist jetzt schon das dritte Mal, dass ich versucht habe, sie zu finden, aber sie ist«, sie wedelte mit den Fingern, als wollte sie eine Rauchwolke verscheuchen, »wie vom Erdboden verschwunden.«
»Ich bin ihr Bruder. Du kannst es mir sagen, und ich gebe es an sie weiter, wenn wir …«
»Also ist sie nicht deine Geliebte?«
»Njet.«
Die Frage brachte ihn aus dem Konzept. Ebenso wie der Ort, an dem sie sich aufhielten, das Leninsky Hotel. Es war luxuriöser, als er erwartet hatte, und ganz gewiss überschritt es seine finanziellen Mittel. Allerdings war es auch nicht gerade zur Benutzung durch die Arbeiterklasse konzipiert worden. Als Erstes empfing den Gast ein geräumiges Foyer mit Stuckverzierungen an den hohen Wänden und gemütlichen Sofas, die mit Seidenbrokat bezogen waren und sich auch im Leningrad seiner Jugend nicht hätten zu verstecken brauchen.
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