Die Sehnsucht der Konkubine
Rot, Schwarz und Weiß zogen sich kreuz und quer über seine Oberfläche, so dass es Lydia schien, als sitze sie inmitten eines Feuerwerks.
Sie kam sich dumm und unwissend vor. Das hier war eindeutig eine Welt, die sie nicht kannte, eine, in der sie plötzlich ganz unsicher wurde. Die Möglichkeiten, sich hier zum Narren zu machen, waren gewaltig.
»Gefallen sie dir, Genossin?«, fragte ihr Gastgeber und zeigte auf die Kunstwerke an den Wänden.
»Sie sind anders«, antwortete sie ausweichend.
Er blickte sie amüsiert an und beugte sich vor, die Ellbogen auf dem Tisch. »Aber gefallen sie dir denn?«
Sie schaute sich nachdenklich um. »Das hier mag ich.« Sie zeigte auf eine der rätselhaften Farbexplosionen, bei der sie sich sicher war, dass sie etwas darstellte, aber nicht genau wusste, was. Das Bild strahlte eine Kraft aus, die sie ansprach.
Er nickte zustimmend. »Das ist die Kopie eines Kandinskys. Einer meiner Lieblingsmaler.«
»Aber das da drüben in der Ecke gefällt mir nicht.«
»Der Malewitsch. Warum nicht?«
»Es ist irgendwie deprimierend. Eine schlichte schwarze Leinwand, aus der alles Leben herausgesogen wurde. Was soll das? Es …« Je länger sie das Bild anstarrte, desto trauriger machte es sie, und sie hätte am liebsten geweint. »Das tut weh. Das könnte ich selber besser.«
»Malst du denn?«
»Nein.«
»Schreibst du?«
»Nein.«
Sie spürte, wie der Boden unter ihren Füßen langsam glatt und schlüpfrig wurde.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete sie. »Irgendwie siehst du aus wie eine Künstlerin. Das gefällt mir.«
Tschort! Er stellte Vermutungen an. Dabei wusste sie rein gar nichts über Kunst. Sie hatte einiges gelesen, aber das machte sie noch nicht zur Schriftstellerin. Doch ihre Mutter war in der Tat Pianistin gewesen, also konnte sie ja vielleicht …
Sie griff zu einer Notlüge. »Ich spiele Klavier«, sagte sie.
Er lächelte, offenbar mehr erfreut über sich selbst als über sie. »Ich wusste es doch. Ich hatte Recht. Im Grunde deines Herzens gehörst du zur Boheme.«
Sie spürte, wie seine Augen nachdenklich über sie hinwegwanderten. Was?, hätte sie am liebsten gerufen. Was siehst du?
»Also«, sagte er rasch. »Fangen wir mit Namen an. Ich bin Dmitri Malofejew. Ich lebe in Moskau und sitze in mehreren Komitees und Kommissionen, deshalb auch der Titel Vorsitzender. Ich reite gern und gehe ab und zu ins Casino. Und was ist mit dir?«
»Lydia Iwanowa.«
Er machte eine neckische Verbeugung, bei der Lydia einen Blick auf den porzellanweißen Scheitel inmitten seines welligen, roten Haars bekam. Die Haut seines Gesichts und der Hände war winterlich blass und etwas sommersprossig. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Genossin Iwanowa.«
»Ich komme aus Wladiwostok.«
»Ach, eine interessante Stadt.«
Der Mund wurde ihr trocken. Wladiwostok war Tausende von Meilen von Moskau entfernt, so weit weg, wie es nur ging, bevor man ins Chinesische Meer fiel. Bitte, bitte, mach, dass er nichts, aber auch gar nichts über die Stadt weiß.
»Das erklärt auch«, sagte er leichthin, »dein Interesse an der Kommunistischen Partei Chinas, deren Wirkungsbereich direkt hinter der russischen Grenze beginnt. Allerdings habe ich gehört, dass die Partei im Süden des Landes aktiver ist als im Norden.«
»Sie … weitet ihren Einflussbereich immer mehr aus.«
»Ah, gut. Freut mich, das zu hören. Also, sag mir doch, junge Genossin, was tust du hier in Moskau?«
»Ich …«
Ein Kellner, groß und dünn und in einem schwarzen Hemd und schmaler Hose, stand wartend mit der bestellten Weinflasche hinter Malofejews Schulter. Die kurze Unterbrechung gab Lydia die Möglichkeit, ihre Antwort zu überdenken. Während sich die dunkelrote Flüssigkeit in ihr Glas ergoss und um sie herum das leicht gedämpfte Klappern und Klirren des Geschirrs und Bestecks durch das Restaurant wogte wie eine leise Melodie, beschloss sie, einen Schritt vorwärts zu wagen. Sie tat es so vorsichtig wie jemand, der über die glitschigen Steine einer Furt einen reißenden Fluss überquert.
»Ich habe Dinge gehört«, sagte sie. »Über Moskau. Ich wollte mir selbst ein Urteil bilden.«
Sie sah, wie Interesse in seinen grauen Augen aufflackerte, und senkte den Blick auf die Serviette in ihrem Schoß, als wüsste sie nicht genau, wie sie fortfahren sollte. Ohne dass er es bemerkte, wischte sie sich die feuchten Handflächen an dem weißen Stoff ab.
»Was denn für Dinge ?« Sein Ton war
Weitere Kostenlose Bücher