Die Sehnsucht der Krähentochter
Petersthal-Hofes zu ihr zurück. Sie wusste, dass sie dorthin zurück
musste und nicht einfach ein neues Leben anfangen konnte, als hätte es jene
Grausamkeiten nicht gegeben. Alles in ihr schrie nach Gerechtigkeit, auch wenn
sie diese Schreie manchmal nicht hören wollte. Doch wie konnte sie für Gerechtigkeit
sorgen? Ausgerechnet sie? Eine Frau, auf sich allein gestellt.
Mit einem Erschauern
wurde ihr bewusst, dass sie wieder die war, die sie früher schon einmal gewesen
war. Eine einfache junge Frau ohne Besitz. Ja, etwas in ihr wollte die
Ungerechtigkeit besiegen. Wut war es, was sie spürte, jedes Mal wenn sie ihren
Gedanken nachgab. Aber würde diese Wut irgendwann stark genug sein, um sie
anzutreiben? Zurückzutreiben? Dorthin, wo all das geschehen war, was nie hätte
passieren dürfen?
Erneut fuhr sie hoch.
Ein Geräusch. Dieses Geräusch! Da war es wieder. Das Klopfen.
Bernina öffnete ihren
Verschlag. Vorsichtig, lautlos.
Sie schob sich in den
Hausflur. Ihre nackten Sohlen berührten den kalten Boden. Zwei Gestalten, genau
beim Eingang. Sie hielt den Atem an, ging noch ein Stück weiter.
Die Haustür wurde
geöffnet, eine der beiden Gestalten entglitt in die Nacht, während die zweite
die Tür schloss.
Berninas Augen hatten
sich an die Dunkelheit gewöhnt.
Ihre Stimme zerschnitt
die Stille: »Hallo, Pierre.«
Sie bemerkte, wie er
zusammenzuckte.
Einen Moment sah es so
aus, als würde er in Ohnmacht fallen. Das Weiße in seinen Augen flackerte, zwei
ängstliche helle Punkte, umhüllt von Finsternis.
Verraten Sie mich
nicht!, flehten diese Augen. Bitte! Bitte!
*
Nach langen Tagen der Nässe verwandelte sich der Regen in einen
dicken Nebel. Die Welt sah aus, als wäre der Sommer übersprungen worden und der
Herbst schon da. Graue Schwaden legten sich auf Braquewehr, zogen durch die
Gassen, und ihre klamme Feuchtigkeit erfüllte die Luft ebenso wie die Furcht,
die noch stärker um sich griff. Nachrichten von einem Gefecht in den
umliegenden Wäldern und Hügeln ließen den Ort erzittern. Sogar das Donnern von
Schüssen war zu hören gewesen. Derart nahe war das Blutvergießen noch nie bei
Braquewehr gewesen. Bernina musste an Meister Schwarzmauls Worte denken. Der
Krieg schien in der Tat jeden Weg zu kennen und überall aufzutauchen.
In der Werkstatt ging
die Arbeit weiter. Es gab immer etwas zu erledigen, etwas zu verschönern. Von
den Prellungen, die Bernina bei dem Sturz in den Abgrund davon getragen hatte,
war fast nichts mehr zu spüren. Die Kratzer und Schnitte auf ihren Armen waren
nur noch als dünne Striche in der Haut erkennbar. Bernina fühlte sich wieder
kräftiger, erholter, und es entging ihr keineswegs, dass Schwarzmaul mehr und
mehr Vertrauen zu ihr fasste. Er ließ sie häufiger allein arbeiten als zu
Beginn, mittlerweile sogar schon mit dem wertvollsten, was seine sorgsam
überwachte Welt zu bieten hatte: Gold.
Bei besonders edlen
Stücken spürte sie jedes Mal, wie ihre Anspannung wuchs. Sorgfältig breitete
sie das Ledertuch über ihrem Schoss aus, in dem sich der Goldstaub fangen
sollte. Nicht einmal das winzigste Körnchen durfte verloren gehen. Sie
erinnerte sich lebhaft daran, wie Pierre von Schwarzmaul mit einer Holzkelle
geschlagen wurde, als er das Tuch einmal vergessen hatte. Auch bei ihr würde
Schwarzmaul sich derart gehen lassen, da war sie sich ziemlich sicher. Nur,
dass sie sich wehren würde.
Manchmal merkte sie, wie
Pierre zu ihr hinsah, betont unauffällig, und dadurch nur umso auffälliger.
Bislang hatte Bernina getan, als hätte es den seltsamen nächtlichen
Zwischenfall an der Eingangstür nicht gegeben. Aber der Junge war offenbar
unsicher, ob sie nicht doch noch etwas sagen würde. Auch schien er daraufhin
keine Lebensmittel mehr zu entwenden – oder er stellte sich so geschickt an,
dass selbst Bernina nichts davon mitbekam.
Im Moment wurde sie
jedoch vor allem von der Aufgabe in Anspruch genommen, die Schwarzmaul ihr übertragen
hatte. Dabei sollten Ornamente in eine feine Goldschicht geschnitten werden,
die später eine Obstschale bedecken sollte. »Etwas Schönes will ich haben«,
hatte Schwarzmaul gefordert. »Etwas mit Blumen. Zeigen Sie, was in Ihnen
steckt!«
Sie setzte die harte
Klinge an, ließ ihrem Gefühl freien Lauf und wurde beinahe selbst überrascht
von den Linien, die Stück für Stück Gestalt annahmen, von den ersten Bildern,
die durch ihre zunächst vorsichtige, dann immer zielstrebigere Hand entstanden.
Bilder, an die sie
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