Die Sehnsucht der Pianistin
gehen.“
„Das tut es auch. Loretta ist eine starke Frau. Das musste sie auch sein.“
Vanessa hob den Blick. Sie sprach vorsichtig. „Ich weiß, dass sie ein Antiquitätengeschäft führt. Ich kann sie mir gar nicht als Geschäftsfrau vorstellen.“
„So ging es ihr anfangs auch, aber sie macht ihre Sache gut. Wie ich hörte, hast du deinen Vater vor ein paar Monaten verloren.“
„Er hatte Krebs. Es war sehr schlimm für ihn.“
„Und für dich.“
Sie hob die Schultern. „Ich konnte sehr wenig tun … Er ließ sich ja nicht helfen. Er gab ganz einfach nicht zu, dass er krank war. Er hasste jede Art von Schwäche.“
„Ich weiß.“ Er legte seine Hand auf ihre. „Ich hoffe, du verurteilst die beiden nicht mehr so sehr.“
Vanessa hatte ihn verstanden. „Ich hasse meine Mutter nicht“, sagte sie seufzend. „Ich kenne sie nur einfach nicht.“
Das war eine gute Antwort, eine, die er akzeptierte. „Ich kenne sie gut. Sie hatte ein schweres Leben, Vanessa. Jeden Fehler, den sie gemacht hat, hat sie tausendfach bezahlen müssen. Sie liebt dich. Sie hat dich immer geliebt.“
„Warum hat sie mich dann gehen lassen?“
Er empfand tiefes Mitgefühl. „Das ist eine Frage, die du ihr selbst stellen und die sie selbst beantworten muss.“
Seufzend lehnte Vanessa sich zurück. „Immer habe ich mich an Ihrer Schulter ausgeweint.“
„Dafür sind Schultern da. Ich hatte eigentlich immer das Gefühl, zwei Töchter zu haben.“
„Die hatten Sie auch.“ Vanessa kämpfte mit den Tränen. „Dr. Tucker, lieben Sie meine Mutter?“
„Ja. Erschreckt dich das?“
„Das sollte es eigentlich nicht.“
„Aber?“
„Es ist irgendwie schwierig für mich. In meiner Erinnerung gab es immer nur Sie und Ihre Frau. Sie waren ein fester Pol in meinem Leben. Meine Eltern … so unglücklich sie miteinander waren, so waren sie doch in meiner Erinnerung …“
„Auch ein fester Pol in deinem Leben“, sagte er ruhig.
„Ja.“ Vanessa entspannte sich ein wenig. Sie war dankbar, dass er sie verstand. „Ich weiß, dass es unvernünftig ist, aber …“
„Mein liebes Kind“, unterbrach er sie. „Es gibt so vieles im Leben, das uns unfair erscheint. Ich hatte achtundzwanzig Jahre mit Emily und hatte gehofft, dass es noch einmal so viele werden würden. Es sollte nicht sein. Während unserer Ehe habe ich nur sie geliebt. Wir hatten das Glück, uns zu Menschen zu entwickeln, die sich auch nach Jahren noch lieben konnten. Als sie starb, starb mit ihr ein Teil meines Lebens. Deine Mutter war Emilys engste und liebste Freundin, und als solche habe auch ich Loretta jahrelang gesehen. Dann wurde sie meine engste und liebste Freundin. Ich glaube, Emily hätte sich gefreut.“
„Sie bringen es fertig, dass ich mir wie ein Kind vorkomme.“
„In den Augen der Eltern bleiben die Kinder immer Kinder.“ Er schaute auf ihren Teller. „Hast du deine Vorliebe für Süßes verloren?“
„Nein.“ Sie lachte. „Aber meinen Appetit.“
„Ich möchte mich nicht unbeliebt machen, Vanessa, doch du bist wirklich zu mager. Loretta erwähnte schon, dass du nicht gut isst. Und auch nicht gut schläfst.“
Vanessa hob die Brauen. Ihr war entgangen, dass ihre Mutter das bemerkt hatte. „Ich denke, ich bin sehr überarbeitet. Die letzten Jahre waren ziemlich hektisch.“
„Wann hast du dich zum letzten Mal untersuchen lassen?“
Sie lachte auf. „Jetzt hören Sie sich wie Brady an. Mir geht es gut, Dr. Tucker. Konzerttourneen machen einen zäh. Es sind nur die Nerven.“
Er nickte, aber im Stillen nahm er sich vor, ein Auge auf sie zu haben. „Ich hoffe, du wirst bald einmal für mich spielen.“
„Ich spiele gerade das neue Klavier ein. Da fällt mir ein, ich müsste eigentlich gehen. Ich übe in letzter Zeit viel zu wenig.“
Als sie aufstand, kam Brady durch die Verbindungstür. Es störte ihn ein wenig, Vanessa zu sehen. Schlimm genug, dass sie ihm schon den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen war. Und jetzt war sie auch noch in seiner Küche. Er nickte ihr zu und warf dann einen Blick auf den Kuchen.
„Auf Mrs. Leary ist Verlass.“ Er lächelte seinem Vater zu. „Lässt du mir etwas übrig?“
„Immerhin ist sie meine Patientin.“
„Er hortet immer die besten Sachen“, klärte Brady Vanessa auf. „Du wolltest mich sehen, bevor ich gehe?“, wandte er sich dann wieder an seinen Vater.
„Ich sollte mir doch die Crampton-Akte ansehen.“ Adam wies auf einen Hefter auf der Arbeitsplatte. „Ich
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