Die Sehnsucht der Pianistin
was, das man im Radio hört.“ Sie streifte Vanessa mit einem Blick. „Meine andere Lehrerin sagt, das ist keine richtige Musik.“
„Jede Musik ist richtige Musik. Lass uns einen Handel abschließen.“
Argwohn blitzte in Annies blassen Augen auf. „Was für einen Handel?“
„Du machst jeden Tag eine Stunde lang deine Fingerübungen und spielst, was ich mit dir durchgenommen habe.“ Ohne Annies Maulen zu beachten, fuhr sie fort: „Dann kaufe ich ein paar Noten von Madonnas Songs und bringe dir bei, wie man sie spielt.“
Annie öffnete überrascht den Mund. „Ehrlich?“
„Ehrlich. Aber nur, wenn du jeden Tag übst, sodass ich nächste Woche merke, dass du dich verbessert hast.“
„Einverstanden.“ Zum ersten Mal in fast einer Stunde lächelte Annie, dass ihre Zahnspange nur so blitzte. „Oh, wenn ich das Mary Ellen erzähle! Sie ist meine beste Freundin.“
„Bis dahin hast du noch fünfzehn Minuten Zeit.“ Vanessa erhob sich, höchst zufrieden mit ihrem Erfolg. „Also, spiel noch einmal das letzte Stück.“
Konzentriert begann Annie zu spielen. Erstaunlich, was man mit einem kleinen Anreiz alles bewirken kann, dachte Vanessa. Vielleicht würde es am Ende sogar Spaß machen, das Mädchen zu unterrichten. Im Übrigen hatte sie durchaus auch selbst eine Schwäche für Popmusik.
Später, in ihrem Zimmer, strich Vanessa leicht mit dem Finger über die Spieldose, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Die Dinge entwickelten sich schneller, als sie erwartet hatte. Ihre Mutter war nicht die Frau, für die sie sie gehalten hatte. Sie war viel menschlicher. Ihr Heim war noch immer ihr Heim, und ihre Freunde waren noch ihre Freunde.
Und Brady war immer noch Brady.
Sie wollte mit ihm zusammen sein. Sie wollte, dass sein Name mit ihrem in Verbindung gebracht wurde, wie es früher gewesen war. Mit sechzehn war ihr alles so sicher erschienen, aber heute, als Erwachsene, fürchtete sie, einen Fehler zu machen, verletzt zu werden und zu verlieren.
Man konnte nicht einfach dort weitermachen, wo man vor langer Zeit aufgehört hatte. Und sie konnte auch keinen neuen Anfang machen, solange sie die Vergangenheit nicht bewältigt hatte.
Sie ließ sich viel Zeit, als sie sich für das Essen bei Joanie zurechtmachte. Es war ein festlicher Anlass, und dem wollte sie Genüge tun. Ihr dunkelblaues Kleid war schmal geschnitten und hatte auf einer Schulter eine kleine, farbige Stickerei. Vanessa trug ihr Haar offen und legte zum Kleid passende Saphirohrringe an.
Bevor sie ihren Schmuckkasten schloss, nahm sie einen Ring mit einem winzigen Brillantsplitter heraus. Sie steckte ihn an den Finger. Mit einem leisen Lächeln stellte Vanessa fest, dass er immer noch passte. Dann zog sie ihn kopfschüttelnd wieder ab. Genau diese Art Sentimentalität durfte sie sich nicht leisten, schon gar nicht, wenn sie den Abend in Bradys Gesellschaft verbrachte.
Sie wollten ja nur noch Freunde sein. Nur Freunde. Wie lange hatte sie sich den Luxus einer Freundschaft nicht mehr leisten können. Und wenn sie sich noch immer zu ihm hingezogen fühlte – nun denn, das machte die Sache nur noch reizvoller. Aber mehr kam nicht in Frage. Sie würde ihren Seelenfrieden – oder seinen – nicht aufs Spiel setzen.
Mit einer unterdrückten Verwünschung presste sie die Hand auf den Magen und nahm ein Pillendöschen aus der Schublade. Der Abend mag zwar festlich sein, dachte sie, während sie eine Pille schluckte, aber anstrengend wird er auch.
Es war an der Zeit, dass sie lernte, mit dem Stress besser umzugehen. Es ging einfach nicht an, dass ihr Körper jedes Mal revoltierte, wenn sie mit etwas Unerfreulichem oder Lästigem konfrontiert wurde. Sie war ein erwachsener Mensch und hatte Disziplin gelernt. Wenn sie auch lernte, mit ihren Emotionen fertigzuwerden, würde sich das bestimmt auf ihr körperliches Befinden auswirken.
Nach einem Blick auf die Uhr ging sie die Treppe hinunter. Vanessa Saxton kam zu einem Auftritt niemals zu spät.
Brady, der am Fuß der Treppe wartete, stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Du bist immer noch Sexy Saxton.“
Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte sie und fühlte, wie ihr Magen sich verkrampfte. Musste er eigentlich so umwerfend aussehen? „Du hast dich ja richtig fein gemacht“, stellte sie fest.
Er schaute an seinem grauen Tweedanzug hinab. „Sieht so aus.“
„Ich habe dich noch nie in einem Anzug gesehen“, sagte sie, weil ihr nichts anderes einfiel. Eine Stufe über ihm blieb sie
Weitere Kostenlose Bücher