Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
erwartet. Betreten hatte sie das Haus der Daughertys nur ein einziges Mal, und damals war sie acht oder neun Jahre alt gewesen. Ihr Vater war mit ihr und ihrer Mutter in der Kutsche vorgefahren und hatte sie beide draußen warten lassen, um Charles’ Vater geschäftliche Unterlagen zu bringen. Ihre Mutter hatte sich geweigert, die Kutsche zu verlassen, obwohl Harriet vor Neugier, wie es wohl im Inneren aussehen mochte, fast zerplatzt war. Erst als James Daugherty, die Höflichkeit in Person, herausgekommen war und »die beiden Damen« hereingebeten hatte, war Lady Elisabeth nichts anderes übriggeblieben, als nachzugeben. Harriet war ungeduldig ins Haus gestürmt und bitter enttäuscht worden. Alles zeugte von Reichtum, aber es war kalt und unpersönlich. Ebenso wie die Mienen der Diener und die des Hausherrn. Die Gefühllosigkeit in James Daughertys Augen war ihr schon als Kind aufgefallen. Und Charles hatte jetzt oftmals ein ähnliches Lächeln. Nicht gefühllos oder grausam, aber kühl. Ja, er hatte sich wirklich verändert, auch in dieser Hinsicht. Harriet biss nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Was war mit Charles geschehen? War es der Tod seines Vaters und die Verantwortung für dessen Geschäfte und Reichtum? Oder – weitaus romantischer – der Verlust von Jessica Finnegan, die mit einem anderen davongesegelt war?
Eine Bewegung entstand unter den Menschen. Reiter und Männer in der Uniform des Nawab trieben die Leute auseinander. Ihnen folgte gemächlich ein Kriegselefant, prächtig angetan mit Lederrüstung, auf dessen Rücken eine Sänfte schaukelte. Die darin Sitzenden wurden von roten Seidenvorhängen vor den Blicken der sich drängenden und gaffenden Leute verborgen, aber Harriet hatte die Männer erkannt, die neben dem Elefanten einherschritten: Sie gehörten zu Jahans persönlicher Leibgarde.
Eine Hand schob von innen den Vorhang zur Seite und gab den Blick auf einen Mann frei, bei dessen Anblick Harriets Herz einen Schlag aussetzte, um dann umso heftiger zu klopfen. Es war das erste Mal seit ihrer Rückkehr, dass sie Jahan zu Gesicht bekam. Er trug noch immer denselben stolzen Ausdruck, aber die weichen Rundungen seines Gesichts waren verschwunden, und die Konturen traten härter und männlicher hervor. Sein Haar war von einem Turban verdeckt, aber Harriet wusste, dass es fast bis zu seinen Hüften fiel und weich und schwer war wie dicke Seide. Er war immer noch schön wie ein indischer Gott. Und ebenso unerreichbar.
Er musste sie durch die Spalten des Vorhangs bemerkt haben, denn sein eindringlicher Blick suchte ihren. Sie hielt den Atem an, als es in seinen Augen aufblitzte und sein überraschter Ausdruck sich erst zu Freude, dann zu … Sehnsucht wandelte. Schon dachte sie, er würde einem Diener den Befehl geben, sie zu ihm zu bringen, doch schließlich wandte er sich mit sichtlicher Überwindung und einem traurigen Lächeln ab. Und dann war der Zug vorbei.
Jetzt erst wurde Harriet gewahr, dass sie sich an die Lehmwand des Hauses hinter ihr gelehnt hatte, schwindlig von der Eindringlichkeit ihrer Erinnerungen. Die sanfte Berührung seiner Hand auf ihrer Wange. Seine heißen Küsse in einer verschwiegenen Ecke des Palastes ihres Vaters. Mehr war nicht gewesen, er hatte nie mehr als ihren nackten Hals und ihre Hände gesehen.
Und dann der Abschied. Er hatte ihr geschrieben und seine Briefe zu denen seiner Schwester gelegt. Sie hatte sie gelesen, weil sie nicht die Kraft gehabt hatte, sie einfach ungeöffnet wegzuwerfen, aber sie hatte nie darauf geantwortet.
Harriet sah sich nach Lan Meng um, die arglos einen Fakir beobachtete, der über einem Korb geheimnisvolle Handzeichen machte. Ihre Freundin wusste nichts von ihrer unglücklichen Liebe zu Jahan, obwohl Harriet sonst keine Geheimnisse vor ihr hatte. In diesem Fall hätte jedes Wort über Jahan jedoch nur Erinnerungen geweckt und zu sehr geschmerzt.
Das Stimmengemurmel, das Geschrei der Händler schien ihr plötzlich unerträglich laut. Es machte ihr mit einem Mal keine Freude mehr, durch die Straßen zu laufen. Ehe sie Lan Meng jedoch vorschlagen konnte heimzugehen, wurde Harriets Aufmerksamkeit von etwas ganz anderem abgelenkt. Etwas, das sie unvorbereitet und unvermittelt so tief in die Seele traf, dass sie unwillkürlich nach Lan Mengs Arm griff, um in der viel kleineren Freundin eine Stütze zu suchen.
Von der anderen Sraßenseite sah sie jemand an. Schlank, gepflegt, ganz der englische Gentleman und – wie Harriet mit
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