Die Sehnsucht Meines Bruders
bis sie uns gleißend zwang, unsere Augen vor ihr zu schützen.
Es würde wieder ein sehr heißer Tag werden. James hatte sich diesmal viel vernünftiger angezogen. Er trug ein helles Jeanshemd über dem T-Shirt, die langen Ärmel nur ein wenig hochgeschlagen.
„Wie geht es deinem Sonnenbrand?“, fragte ich ihn. Ich hatte ihn noch ein paar Mal eingecremt, und es war schon ein wenig besser geworden. Doch die Haut würde sich wohl abpellen.
„Es geht, tut eigentlich kaum noch weh.“
In dem relativ breiten Tal, in dem wir jetzt sanft aufwärts gingen, konnten wir ohne Probleme die ganze Zeit nebeneinander gehen. Dennoch redeten wir nicht viel. Das gestrige Erlebnis saß uns beiden noch ziemlich in den Knochen. James grübelte vor sich hin, und das musste ich respektieren. Ich rechnete es ihm hoch an, dass er nicht leichtfertig über diese Sache hinweg ging. Das Leben eines Menschen war nichts, was man so einfach ohne Gewissensbisse aufs Spiel setzte. Ich musste mich auf den Weg konzentrieren, damit wir keine Zeit mit Suchen vergeudeten. Bisher hatten wir für mich meist unbekanntes Gebiet durchquert, doch hier kannte ich mich wieder einigermaßen aus. Das musste das Tal sein, in das ich damals eingebogen war, als ich von Osten her zum See gewandert war. Jetzt hatte ich es allerdings auf eine kleine Schlucht abgesehen, die noch ein Stück östlicher parallel dazu verlief und am Fuße eines Wasserfalls zu enden schien.
Diesen Weg kannte ich nicht genau. Mein Freund Achim hatte mir davon erzählt. Wie er mit einem Bekannten aus Abenteuerlust dort hinaufgeklettert war, wo es am Ende der Schlucht anscheinend nicht mehr weiter ging. Sie hatten sich den Wasserfall hinauf gewagt, der damals allerdings nur wenig Wasser führte und oben ging es tatsächlich weiter. Der Bach entsprang nicht einer Wand, einer Felsspalte, sondern kam von weiter oben. Von dort, wo er ins Tal stürzte, ging der Anstieg von unten unsichtbar weiter, bevor man einen letzten Kamm überkletterte und in einem steilen Hohlweg zum See hinabsteigen konnte.
Glücklicherweise hatten wir keine Schwierigkeiten, den Eingang zur Schlucht zu finden. Wer allerdings nicht wusste, dass hier ein Tal abzweigte, dem würde es wohl nicht so leicht auffallen, der Weg schlängelte sich zwischen hohen Felsen hindurch und jede Biegung schien das Ende zu bedeuten. Man war überrascht, dass es weiterging.
Am Abend zog dichter Nebel auf. Kein gutes Zeichen. Wir mussten uns zwar inzwischen in der Nähe des Wassers befinden, um diese Jahreszeit jedoch sollte es in dieser Gegend bereits so trocken sein, dass nur noch ein kleines Rinnsal vorhanden war. Der Nebel konnte also auf einen Wetterwechsel hindeuten. Die letzten kühlen Nächte hatten mich so etwas allerdings schon befürchten lassen. Wir schlugen unser Zelt unter einem Felsüberhang auf, um vor Steinschlag geschützt zu sein.
„Sollen wir lieber umkehren, jetzt wo es noch nicht zu spät ist?“, fragte ich James, doch der schüttelte den Kopf.
„Warten wir es ab. Außerdem können wir nicht mehr zurück. Oder gibt es einen anderen Weg, auf dem wir die Kerle umgehen können?“
„Es gibt immer einen anderen Weg. Länger und beschwerlicher als der, den wir gegangen sind, aber ja, ich glaube schon, dass wir sie umgehen könnten. Außerdem ist die östliche Route ja noch frei. Von Ispen aus können wir uns ein Taxi zum Hotel nehmen.“
„Trotzdem würde ich eigentlich gerne weitergehen. Mag es gar nicht, wenn ich mein Ziel nicht erreiche.“ Er lachte leise.
Das hätte ich mir denken können, ganz der alte furchtlose James. „Wir entscheiden das morgen.“, sagte ich. „Zuerst sehen wir mal, was mit dem Wasserfall los ist. Ob er überhaupt gangbar ist. Aber wenn das Wetter zu schlecht wird, kehre ich um, mit dir oder ohne dich.“ Hätte ich natürlich im Traum nicht getan, aber erstens wollte ich die Oberhand behalten, um ihn eventuell vor seinem eigenen Leichtsinn zu schützen. Und zweitens wollte ich den Anschein erwecken, als kümmere es mich nicht groß, was er machte.
In dieser Nacht kuschelten wir uns in schweigsamem Einvernehmen sofort aneinander. Das scheußliche Erlebnis mit den Jägern hatte uns innerlich viel näher gebracht, als alles Reden es vermocht hätte. Da hatten wir hin und her überlegt, ob und wie wir miteinander reden sollten. Und dann reichte eine einzige Prüfung, die wir gemeinsam bestanden, um einen seelischen Draht zwischen uns zu schaffen, der wohl einiges aushielt.
Wahrscheinlich durch
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