Die Sehnsucht Meines Bruders
beiden Männer, die geflohen waren, blieben verschwunden. Sie lauerten bestimmt in der Nähe und würden aus ihrem Versteck auftauchen, sobald wir weg waren. Es bestand natürlich die Gefahr, dass sie uns irgendwo mit einem Gewehr auflauerten. Aber die Flinten befanden sich im Haus und ich hatte die Kerle zum Tal hin laufen sehen. Es war erst kurz nach ein Uhr. Nur etwa eine halbe Stunde hatte ich also geschlafen, bevor ich James hatte schreien hören.
* * *
„Wie fühlst du dich?“ Wir waren schon eine Weile schweigend nebeneinander her marschiert. Den Weg konnte ich im hellen Mondlicht ganz gut ausmachen.
„Es geht. Mein Magen zittert irgendwie so komisch. Kann ich gar nicht abstellen.“
„Ist ja auch dein erstes wirkliches Opfer, oder?“
Er lachte dumpf. „Ja ... mein erstes Opfer, wenn man von den Straßenschlägereien in London absieht.“
„Ist nicht deine Schuld, Mann.“
„Ich hätte vorsichtiger sein sollen. Wusste ja, was so ein Tritt anrichten kann.“
„Aber du hast ihn doch nicht willentlich verletzt, oder? Schließlich ist er erst durch den Sturz zu Schaden gekommen.“
„Nein, ich glaube nicht ... wie sicher ich mir da sein kann ...? Schwer zu sagen. Ich werde wahrscheinlich noch tagelang darüber nachdenken. Es war wohl reiner Reflex. Ihn mit dem Messer auf dich losstürmen zu sehen ...“
Ich begegnete ich seinem Blick und schwieg betroffen. Seine Augen brannten.
„Trotzdem, ich hätte ihn auch auf sanftere Weise entwaffnen können. Es ging nur alles so schnell. War keine Zeit mehr zum Überlegen. Vergessen werde ich das so schnell nicht.“
„Du hast mir das Leben gerettet, vergiss das nicht. Er war so groß wie ich, und ich hätte dem Jagdmesser wohl nicht viel entgegenzusetzen gehabt. Außerdem hätte er dich vorher beinahe vergewaltigt.“
„Ob die uns verfolgen?“
„Glaube ich nicht. Wir werden aber zur Sicherheit einen anderen Weg einschlagen, als ich erst vorhatte. Er ist viel schwieriger, zum Teil richtig gefährlich, aber sie werden ihn bestimmt nicht kennen, auch wenn sie hier häufiger herumkraxeln.“
Wir stiegen an der Talwand empor, die glücklicherweise nicht besonders steil war. Doch als der Mond unterging, mussten wir Halt machen. Ohne sein Licht war nichts mehr zu machen.
* * *
Natürlich hätte dieser Mann auch tot sein können. Ein klein wenig heftiger der Sturz, eine etwas andere Stelle des Kopfes, auf die er aufschlug, ein schärferer Stein .. es waren viele Zufälle, die ihm das Leben gerettet hatten. Eine winzige Veränderung und es wäre um ihn geschehen gewesen. Und James hätte einen Totschlag begangen. In Notwehr natürlich, niemand hätte ihn verurteilt ... und dennoch. Die Schuld würde man ein Leben lang nicht mehr loswerden. Dieser Gedanke war es wahrscheinlich, der ihn so erschreckte, ihn nicht losließ.
Wie schnell der Tod jeden von uns überraschen konnte! In einer Sekunde war alles vorbei. Jeden konnte es jederzeit treffen. Und dafür hatte man zwanzig Jahre lang geschuftet, um etwas aufzubauen. Irgendwie zynisch das Ganze. Nichts, so kam es mir vor, als ich in meinem Schlafsack lag, hatte angesichts des Todes noch irgendeine Bedeutung.
James kuschelte sich an meine Brust. Ich legte vorsichtig meine Arme um ihn, um ihn nicht aufzuwecken. Vielleicht war es diese Zweisamkeit jetzt, die noch zählte, wenn alles andere seine Bedeutung verlor. Die zarten Berührungen. Sein Haar auf meiner Brust, seine Hand auf meinem Bauch, sein Atem, der mir die Haut in meiner Halsbeuge zu verbrennen schien. Seine Tränen im Schlaf, die mir das T-Shirt durchnässten. Das alles war von Bedeutung.
Wir versuchten zu verdrängen, dass Tod und Leben eng miteinander verwoben waren. Ein und dasselbe, wenn man es so betrachtete. Der Tod war nur der Endpunkt und vielleicht nicht einmal das. Wie die Spitze des Berges zum Berg gehörte. Eine Spitze, die mit dem Himmel verschwamm. Es konnte nicht schaden, sich im Geiste von Zeit zu Zeit auf diese Spitze, auf diesen Gipfel zu stellen und sein Leben von dort aus zu überdenken. Da würde es wohl wenig geben, was von Bedeutung blieb. Bis auf Haut auf meiner Haut. Bis auf das Mitgefühl. Bis auf die Liebe.
* * *
Im Morgengrauen ging es weiter. Hinter einem Berghang hielten wir uns stärker ostwärts. Beobachteten den Aufgang der Sonne. Das erste zarte Graurosa, das erste helle Gelb, welches das Blau des Himmels über dem Horizont in ein weiches Türkis verwandelte. Und dann die Sonne selbst, erst glühend Rot, dann immer heller,
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