Die Sehnsucht Meines Bruders
durchbrechen musste, um weiterzuleben. Man wagte das Äußerste, um das Glücksgefühl zu erleben, seine Angst bezwungen zu haben. Immer und immer wieder.
Dieses berauschende Gefühl war eine starke Triebfeder, eine innere Kraft, die wuchs und aufblühte, wenn man sich dem Berg stellte. Es schaffte eine innere Notwendigkeit, die einen erst dazu befähigte, alles zu überwinden, alles zu wagen und unbedingt und in jeder Lage durchzuhalten. Etwas, was mit dem Verstand, dem reinen Willen nie zu erreichen wäre.
Es war so, als hätte der gesamte Körper, alle Sehnsucht nur noch ein Ziel, ohne das er nicht leben konnte: den Gipfel erreicht und mit ihm sich selbst überwunden zu haben. Wenn man das einmal erlebt hatte, brauchte man diese erregenden Momente der Angstfreiheit, der gottgleichen Allmachtsgefühle immer wieder, fast wie ein Junkie den nächsten Schuss. Ohne Alternative. Zweifel hatten keinen Platz. Wenn man das schaffte, war man erlöst, das Vertrauen in sich selbst grenzenlos. Das Wissen, dass der Körper fähig war, Todesangst zu überwinden, war berauschend, denn dann musste ich auch die Kraft haben, in Ruhe zu sterben, wenn es soweit war.
Jedenfalls war dies hier gefährlich genug, sich wieder einen solchen Kick zu holen. Die Angst war da, ließ mich vorsichtig nach Wegen suchen, der Herausforderung zu begegnen. Viel Zeit durfte ich mir dabei nicht nehmen. Wir mussten so schnell wie möglich klettern. Durften keine Sekunde zu lange an einer Stelle verweilen, die überspült wurde.
Ich hielt mich möglichst am Rand, aber oft genug zwang mich eine unüberwindliche Stelle, das Wasser zu queren. Ich versuchte, so schnell es ging, die nächsten Meter nach Möglichkeiten abzusuchen, sich hinaufzuziehen, nach kleinen Spalten und Vorsprüngen. Auch nach lockerem Gestein, das uns gefährlich werden musste. Vor allem aber suchte ich nach einer Stelle, wo ich ein paar Sekunden verweilen konnte, um die darauffolgenden Meter wieder auf die gleiche Weise zu prüfen.
Wir kamen schnell voran, doch schon bald wurden meine Füße und vor allem die Hände taub. Diese Wand hatte es gehörig in sich. Ich rechnete es James hoch an, dass er nicht klagte, denn ihm musste es ja genauso gehen. Er kämpfte sich verbissen weiter voran und stand zu seiner Entscheidung.
So hatten wir es fast geschafft, da lösten sich plötzlich trotz aller Vorsicht ein paar Steine unter meinem Fuß. Von einer Sekunde auf die andere stürzte James ins Seil. Blitzschnell packte ich den Haken, den ich gerade eingehängt hatte. Keine Sekunde zu früh, denn mit dem zusätzlichen Gewicht wurde ich zu schwer für den Tritt, auf dem ich stand, und auch die restlichen Brocken stürzten ins Tal.
Ich durfte in diesem Augenblick nicht an James denken! Ob er getroffen worden war, verletzt, ohnmächtig. Oder gar tot ... eventuell retten konnte ich ihn nur, wenn ich meine Gedanken strikt auf die Aufgabe richtete, mich und ihn zu einem festen Stand zu hangeln.
Fieberhaft suchte ich mit dem Fuß nach einem Spalt, schob mich weiter, fand andere Haltepunkte. Mit buchstäblich letzter Kraft gelang es mir schließlich, mich seitlich über mir auf einen Felsvorsprung zu ziehen, die Füße in winzige Risse im Gestein gekrallt.
James bewegte sich die ganze Zeit nicht. Sein Gewicht hing gleichmäßig schwer am Seil. Er war bewusstlos. Schnell sicherte ich mich durch ein paar Haken und begann, ihn vorsichtig hochzuziehen. Es können nur wenige Minuten gewesen sein, doch für mich dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis ich ihn endlich über den Rand ziehen, ihn auf den Sims setzen und gegen die Wand lehnen konnte.
Er blutete ziemlich stark aus einer Platzwunde seitlich am Kopf, sein Herz schlug schwach aber regelmäßig. Die Rucksäcke waren nicht greifbar, also musste ich mir etwas anderes ausdenken. Schnell zog ich mir mein T-Shirt aus, zerschnitt es, riss es in Streifen. Es gelang mir, ihn damit zu verbinden. Aber es half nicht viel. Unaufhaltsam durchtränkte sein Blut den Stoff. Verzweifelt presste ich meine Hand darauf und betete zu Gott, dass es mir gelingen würde, die Blutung zu stillen. Ich wartete wohl eine Viertelstunde, aus Furcht, sie könne wieder aufbrechen. Dann ließ ich vorsichtig los und tatsächlich sickerte kein Blut nach. Ich atmete auf.
Aber was sollte ich jetzt tun? Sollte ich versuchen, ihn aus der Bewusstlosigkeit zu holen? Sollte ich ihn vorsichtig abseilen? Oder sollte ich ihn mir auf den Rücken binden und ihn nach oben schleppen? Konnte er überhaupt
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