Die Seidenbaronin (German Edition)
Gefallen einzulösen, den Sie mir schulden.»
Kapitel 36
Crefeld, Juli 1795
Eines Morgens wachte Paulina auf und fühlte ihre Stunde kommen. Sie rief eine Magd und bat sie, die Hebamme zu holen.
«Auf keinen Fall gehe ich jetzt aus dem Haus!», erklärte das Mädchen angsterfüllt.
«Sei nicht albern!», rief Paulina und spürte die nächste Wehe auf sich zurollen. «Die Hebamme wohnt nicht weit weg!»
Die Fensterscheiben ihres Schlafzimmers begannen zu klirren. Von der Straße her war ein dröhnendes Geräusch zu vernehmen, das rasch näher kam.
«Hören Sie das, gnädige Frau?», fragte die Magd. «Schon wieder französische Truppen!»
Nur wenige Augenblicke später erzitterte das Haus vom Gerassel durchziehender Geschützzüge. Das dumpfe Klappern Hunderter Pferdehufe gemischt mit dem Trampeln schwerer Stiefel war dazu angetan, auch den letzten Schlafenden aus seinen Träumen zu reißen.
«Wo wollen nur all diese Soldaten hin?», fragte Paulina unter einer Welle von Schmerzen. «Crefeld ist ein einziges großes Feldlager.»
Den ganzen Sommer über ging das schon so. In der Ebene Richtung Uerdingen am Rhein sammelte sich ein gigantisches Heer. Die armen Bauern fürchteten um ihre Ernte, die durch andauerndes Regenwetter ohnehin verspätet war. Ohne Rücksicht auf die bestellten Felder zu nehmen, kampierten die Franzosen in langen Reihen mit Biwaks.
Der Friedensschluss mit Preußen im April hatte keine Wendung gebracht. Zwar hatte man an den Stadttoren wieder den preußischen Adler aufhängen dürfen, aber das war auch schon alles an Zugeständnissen gewesen, was die Franzosen gewährt hatten. Die linke Rheinseite blieb französisch, die Kriegslieferungen gingen ungemindert weiter. Pierre hatte recht behalten: Der Frieden war mit den linksrheinischen Gebieten bezahlt worden. Und nun mussten die Crefelder auch noch Tag und Nacht die Durchmärsche der von Holland kommenden Truppen ertragen.
«Schauen Sie, ob Herr Cornelius noch da ist!», sagte Paulina zu der Magd. «Vielleicht kann er die Hebamme holen.»
Das Mädchen nickte erleichtert und verschwand.
Allein in ihrem Zimmer überkam Paulina ein Anflug von Panik. Die letzten Wochen ihrer Schwangerschaft waren ihr wesentlich beschwerlicher als bei Anna vorgekommen. Das ungeborene Kind machte ihr sehr zu schaffen, und bereits mehrere Male war sie ganz sicher gewesen, dass die Geburt kurz bevorstand.
Paulina hatte feststellen müssen, dass ihr Gatte zwar schlecht rechnen, aber doch immerhin bis neun zählen konnte. In der Annahme, dass das Kind frühestens in zwei Monaten kommen würde, war er nach Paris gereist, um beim Direktorium eine Herabsetzung der von den Franzosen ausgeschriebenen Zwangsanleihe zu erwirken. Paulina musste also ohne Pierre auskommen. Immerhin würde es ihr erspart bleiben, Pierre als stolzen Vater von Christians Kind an ihrem Wochenbett empfangen zu müssen.
Als die Magd wenig später unverrichteter Dinge zurückkehrte und berichtete, dass Herr Cornelius schon in der Färberei sei, wurde Paulina plötzlich bewusst, wie hilflos sie war.
Kurz darauf erschien Catherine am Bett ihrer Schwägerin. Im Gegensatz zu der mit bleichem, schweißglänzendem Gesicht in ihren Kissen liegenden Paulina sah sie aus wie das blühende Leben. Die Ehe mit Thomas bekam ihr gut und hatte sie glücklicher gemacht, als sie selbst es erwartet hatte. Paulina war regelrecht neidisch, wenn die beiden Jungvermählten am Morgen erschienen und verliebte Blicke tauschten, noch das Leuchten infolge der in der Nacht genossenen Zärtlichkeiten in den Augen.
«Schicken Sie den Kutscher oder sonst wen zur Hebamme!», keuchte Paulina, als sie ihre Schwägerin sah. «Es scheint schneller zu gehen, als ich dachte.»
«O Gott!», rief Catherine. «Und wenn das Kind vor der Hebamme kommt?»
«Beeilen Sie sich, sonst …» Ein neuerlicher Krampf schnitt Paulina das Wort ab. Catherine riss vor Entsetzen die Augen auf, machte auf dem Absatz kehrt und lief hinaus. Als die Tür sich hinter ihr schloss, wurde Paulina von einer großen Einsamkeit erfasst.
Draußen zog noch immer schweres Gerät vorbei. Zackige Befehle auf Französisch drangen herauf. Das Marschieren der Soldaten dröhnte der jungen Frau in den Ohren.
Die Wehen kamen immer häufiger und stärker.
Irgendetwas stimmt nicht, dachte Paulina. Es ist anders als beim ersten Mal. Jetzt werde ich dafür bestraft, was ich anderen angetan habe!
Alles Mögliche ging ihr durch den Kopf, wirr und unzusammenhängend.
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