Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seidenbaronin (German Edition)

Die Seidenbaronin (German Edition)

Titel: Die Seidenbaronin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Rauen
Vom Netzwerk:
Jeder blickte in Gedanken versunken aus dem Fenster. Der Winter hatte in diesem Jahr früh Einzug gehalten, und die Felder und Wiesen lagen unter einer in der Sonne glitzernden Schneedecke. Paulina dachte daran, wie am Vormittag eine erschütternde Neuigkeit in Crefeld die Runde gemacht hatte.
    «Man hat im Bockumer Wald zwei Tote gefunden.»
    Sie hatte keine Sekunde gezögert, ihren Schwager in den Bockumer Wald zu begleiten. Wenn es sich wirklich um ihren Sohn handelte, wollte sie sich wenigstens von ihm verabschieden.
    Während draußen die stille Winterlandschaft vorbeizog, erinnerte Paulina sich an den heißen Julitag, als ihre Zwillinge zwischen rasselnden Geschützzügen zur Welt gekommen waren. Schon bald war klar gewesen, dass Frédéric mit seiner südländischen Erscheinung und dem ungestümen, rebellischen Wesen nach seiner Mutter kommen würde. Camille hingegen hatte nicht nur die bernsteinfarbenen Augen, sondern auch die leicht melancholische Art ihres Vaters geerbt.
    Wenn Frédéric noch leben sollte, schwor sie sich, wenn der Tote im Bockumer Wald nicht mein Sohn ist, dann werde ich Christian sofort von seiner Existenz schreiben. Und ich werde den Jungen zu ihm schicken.
    Die Kutsche erreichte die Stelle im Bockumer Wald, die man Thomas beschrieben hatte. Die beiden Toten waren in einem Viehunterstand aufgebahrt worden. In dem Holzverschlag stand eine Gruppe von mehreren Männern. Einer von ihnen, ein grauhaariger Herr, der trotz der eisigen Temperaturen in Hemdsärmeln war, redete gestenreich auf die anderen ein. Im Hintergrund zeichneten sich die Umrisse der mit grobem Sacktuch bedeckten Leichname ab.
    Als der grauhaarige Mann Paulina und Thomas kommen sah, verstummte er und eilte ihnen entgegen. Er hob abwehrend die Arme. «Hier gibt es nichts zu gaffen! Warum sind nur alle so wild darauf, diese Leichname zu betrachten? Man sollte meinen, dass der Ort eines Verbrechens kein Ziel für eine Spazierfahrt ist!»
    Thomas räusperte sich. «Wir sind nicht zum Vergnügen hier, mein Herr. Es besteht die Möglichkeit, dass es sich bei einem der Toten um einen Verwandten von uns handelt.»
    «Von Ihnen?», rief der grauhaarige Mann, während er Paulina und Thomas kritisch musterte. «Das glaube ich kaum. Diese Toten waren einfache Burschen, die mit Ihresgleichen nichts zu schaffen haben.»
    «Dürfen wir dennoch einen Blick auf sie werfen?», beharrte Thomas.
    «Da gibt es nicht viel zu sehen, meine Herrschaften!», erwiderte der grauhaarige Mann. «Die beiden sind erstochen worden, wahrscheinlich aus dem Hinterhalt. Der Jüngere war ein ganz hübscher Kerl mit langen, schwarzen Locken. Er hatte so ähnliche Augen wie Sie, Madame, aber die kann man nun ohnehin nicht mehr anschauen, denn ich habe ihm die Lider geschlossen. Als man mich rief, habe ich noch das Entsetzen in seinem Blick gesehen, das er im Augenblick seiner Todesstunde verspürt haben muss.»
    Paulina merkte, wie ihr schwindelig wurde. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, und Thomas musste sie stützen.
    Der grauhaarige Mann musterte Paulina mit besorgter Miene. «Ich sollte mich wohl zuerst einmal um die Dame kümmern. Ich bin Arzt und komme aus Uerdingen. Inzwischen können Sie meinethalben die Leichname begutachten, mein Herr. Keine Bange, sie sehen recht passabel aus, obwohl sie seit mindestens zehn Tagen dort draußen gelegen haben. Die Jahreszeit hat gewisse natürliche Prozesse aufgehalten – der Schnee hat die Leichen gleichsam konserviert.»
    Thomas war vor Wut knallrot im Gesicht geworden.
    «Können Sie nicht ein wenig Rücksicht auf die Dame nehmen?», fuhr er den Arzt an und schob ihn unsanft fort. Entschlossen ging er auf den Unterstand zu.
    Der Arzt begann, an Paulinas Handgelenk herumzutasten, um ihr den Puls zu fühlen, doch sie riss sich mit plötzlich wiedererwachten Lebensgeistern los und lief Thomas hinterher.
    «Haben Sie gehört, Thomas? Er hat gesagt, dass die Toten seit mindestens zehn Tagen dort draußen gelegen haben. Es kann also nicht Frédéric sein!»
    Thomas blieb stehen und blickte sie verblüfft an. «Sie haben recht, Madame! Er hätte förmlich fliegen müssen, um so schnell hierherzugelangen!»
    Thomas stürmte in den Unterstand und beugte sich über die Leichname. Als Paulina seinen Ausruf der Erleichterung hörte, schloss sie die Augen und sank auf die Knie. Ungeachtet der Kälte und Nässe hockte sie sich in den Schnee und barg ihr Gesicht in den Händen.
    Frédéric war noch nicht tot, dessen war sie

Weitere Kostenlose Bücher