Die Seidenbaronin (German Edition)
Mitleid zu unterdrücken, der sie bei seinem Anblick befallen hatte.
Longeaux’ Miene bekam einen spöttischen Zug, der nicht zu seiner armseligen Aufmachung passte. «Ob Sie etwas für mich tun können? Ich glaube eher, dass ich es bin, der etwas für Sie tun kann!» Und als sie ihn teils erstaunt, teils verärgert musterte, fügte er hinzu: «Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Madame. Falls ich Ihnen dies zumuten darf, dann schieben Sie mich doch bitte ein wenig das Trottoir entlang. Ich möchte nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig erregen. Wenn Sie mich fahren, hält man Sie vielleicht für meine Krankenschwester.»
«Aber warum sollte ich das tun?», fragte Paulina empört.
Doch als sie sah, dass die vorbeigehenden Menschen Longeaux und sie neugierig angafften, ging sie kurzerhand um den rollenden Stuhl herum, packte die beiden Griffe an seiner Lehne und begann, das Gefährt vor sich her zu schieben.
«Keine Sorge, Sie werden diese Mühe nicht lange auf sich nehmen müssen», sagte Longeaux. «Mein Diener folgt uns mit etwas Abstand und wird Sie gleich wieder ablösen.»
«Einen Diener haben Sie also noch!», stellte Paulina fest.
«Auch wenn ich einen anderen Eindruck vermitteln sollte, Madame, bin ich glücklicherweise kein armer Mann. Ich habe diese Verkleidung gewissermaßen als Tarnung gewählt.»
Einen Moment lang fragte sich Paulina, ob zu seiner körperlichen Behinderung nun auch eine geistige Beeinträchtigung gekommen war. In was für eine Komödie war sie da geraten? Oder sollte sie besser Tragödie sagen?
«Ich zeige mich nur noch selten in Paris», erklärte Longeaux, «da ich gezwungenermaßen überall sofort auffalle. Dass ich heute hier bin, ist nicht ganz ungefährlich für mich. Jedoch wollte ich Ihre … hm … Angelegenheit persönlich erledigen.»
«Meine Angelegenheit?»
«Es geht um Ihren Sohn, Madame.»
Paulina fuhr der Schreck durch alle Glieder. Sie blieb stehen.
«Fahren Sie weiter, Frau Gräfin!», beschwor Longeaux sie. «Ich muss Sie bitten, mir zu vertrauen und sich Ihre Gefühlsregungen nicht allzu deutlich anmerken zu lassen.»
Paulina zögerte noch einen Augenblick, doch dann schob sie den Rollstuhl wieder an. Im nächsten Moment wurde ihr schmerzhaft klar, dass Longeaux alles andere als ein Mann ohne Verstand war.
«Ihr Sohn verfasst seit einiger Zeit zusammen mit ein paar Kameraden staatsfeindliche Pamphlete», begann er.
Er ist vom Geheimdienst, durchfuhr es Paulina. Wie mechanisch ging sie weiter, den Blick auf die Räder des Stuhls gerichtet.
«Ich weiß das, weil ich zu einer Vereinigung gehöre, der sich auch Ihr Sohn angeschlossen hat», fuhr Longeaux fort. «Man könnte sagen, dass wir es uns zur Aufgabe gemacht haben, den Sinn und Zweck von Kaiser Napoleons Wirken in Zweifel zu stellen.»
Er will sich nur mein Vertrauen erschleichen, dachte Paulina. In Wahrheit ist er hier, um mich auszuhorchen.
«Wovon reden Sie, Herr Graf?», fragte sie und versuchte, ihrer Stimme einen strengen Ton zu verleihen. «Mein Sohn würde sich an derlei Unfug niemals beteiligen!»
Ein paar Augenblicke lang herrschte Schweigen.
«Madame von Ostry», sagte Longeaux schließlich. «Ich bin alles andere als ein angenehmer Zeitgenosse, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Allerdings sollten Sie mit Ihrem klugen Köpfchen doch wirklich kapiert haben, dass ich Ihnen nie etwas Böses wollte. Sie haben nun zwei Möglichkeiten: Entweder Sie vertrauen mir und ersparen Ihrem Sohn ein ähnliches Schicksal, wie es seine Kameraden erleiden mussten, oder Sie lassen mich hier stehen, und ich verschwinde für immer aus Ihrem Leben.»
Paulina schob weiter und wägte fieberhaft ab, was sie nun tun sollte. Sie rief sich in Erinnerung, dass Longeaux sich weder als junger Adeliger noch als Vertreter der Revolutionsbewegung durch besonders ehrenhaftes Verhalten ausgezeichnet hatte. Warum sollte dies auf einmal anders sein? Doch während ihr Verstand entschieden davon abriet, dem Mann zu vertrauen, sagte ihr Bauch etwas anderes.
Sie beschloss schließlich, diesmal auf ihr Gefühl zu hören.
«Sie arbeiten also im Widerstand?», fragte sie leise.
Sie meinte, einen winzigen Seufzer der Erleichterung bei Longeaux zu hören. «Ja, seit langem. Schon damals, als wir uns nach der Kaiserkrönung begegneten.»
«Welches Schicksal hat die Kameraden meines Sohnes ereilt?»
Longeaux atmete geräuschvoll aus. «Nun, der eine wurde tot in einer Gasse von Paris gefunden. Er ist erstochen worden. Der
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