Die Seidenbaronin (German Edition)
dumpfer Knall zu hören. Gleich darauf stieß eine männliche, jugendliche Stimme einen herzhaften Fluch aus. Sollte der Enkelsohn der Gräfin Bahro etwa im Zimmer nebenan sein? Wild entschlossen ging Paulina auf den Flur hinaus und öffnete die Tür zum benachbarten Raum. Ein gar sonderliches Bild tat sich vor ihr auf.
Am Fenster des kleinen, schummrigen Zimmers stand ein hoher Lehnstuhl. Darin saß ein junger Mann, über dessen Beine eine Decke gelegt war. Er bückte sich mühsam und unter Zuckungen nach einem Buch, das auf dem Boden lag. Bei Paulinas Eintreten hob er den Kopf und sah ihr mit wütendem Blick entgegen.
«Wer auch immer Sie sind – kommen Sie bloß nicht auf die Idee, mir zu helfen!», herrschte er sie an.
«Warum sollte ich das tun, Monsieur?» Sie musterte den jungen Mann neugierig und enttäuscht zugleich. Sein Erscheinungsbild war weit entfernt von dem, was Therese über den Enkelsohn der Gräfin Bahro erzählt hatte.
Paulina hatte eine merkwürdige Gestalt mit karottenroten, dichten Locken vor sich, deren Wange von einer rötlichen Narbe überzogen war. Nachdem der junge Mann mit einigen krampfhaften Bewegungen das Buch erreicht und in die Hand genommen hatte, versuchte er, sich genauso mühsam wieder aufzurichten, und verharrte schließlich in einer unnatürlich eingeknickten Stellung.
«Sehen Sie es mir nach, junge Dame, wenn ich mich nicht erhebe», sagte der Rotschopf mit bitterem Lächeln, «aber Sie wissen ja wahrscheinlich schon, dass ich dazu nicht mehr in der Lage bin.»
Auf Paulinas entsetzten Blick brach der junge Mann in höhnisches Gelächter aus. «Nun sagen Sie bloß, meine Tante hat Sie nicht eingeweiht? Da hat man Sie armes Ding also zu dem bösen Krüppel geholt, ohne Ihnen zu verraten, was auf Sie zukommt?»
Der Zynismus des jungen Mannes – eine Eigenschaft, mit der Paulina durch ihren Onkel Alexander bestens vertraut war – weckte ihren Widerstandsgeist.
«Niemand hat mich zu Ihnen geholt», teilte sie dem jungen Mann hochnäsig mit. «Ich habe dieses Zimmer betreten, weil ich einen bestimmten Herrn suche. Sie, Monsieur, können dieser Herr jedoch nicht sein, denn der, den ich suche, kann tanzen!»
Der Spott im Gesicht des jungen Mannes erstarb. Er sah Paulina ungläubig an. Ein Schauder schien durch den seltsam verrenkten Körper des Rotschopfes zu gehen.
«Tanzen – das konnte ich auch einmal», sagte er mit heiserer Stimme. «Ich war ein guter Tänzer, Mademoiselle, ein sehr guter Tänzer. Die jungen Damen mochten es, wenn ich sie aufforderte.» Er blickte sehnsüchtig ins Leere. «Wir tanzten, bis es hell wurde. Und dann machten wir einen Ausritt im Morgengrauen. Wir hatten nicht eine Minute geschlafen, aber wir feierten weiter, den ganzen Tag, die ganze Nacht, bis wir so müde waren, dass wir irgendwo vor lauter Erschöpfung einschliefen. Ein paar Stündchen, und wir waren wieder gestärkt für die nächste Festlichkeit.»
Paulina lauschte mit wachsendem Staunen den Worten des jungen Mannes. Er sprach eindeutig vom höfischen Leben. War dieser sonderbare Kauz am Ende doch Christian von Bahro?
«Wenn es wenigstens im Krieg passiert wäre!», fuhr der junge Mann unterdessen fort. «Ich wäre mit Ehren überhäuft worden. Aber es ist bei der Jagd geschehen, können Sie sich das vorstellen, Mademoiselle? Ein ganz dummer, unnötiger Unfall … den ich auch noch selbst verschuldet habe.»
Paulina schämte sich auf einmal, ihn so angefahren zu haben. Gerade wollte sie zu ein paar entschuldigenden Worten ansetzen, als er sich angestrengt aufrichtete. «Sie sind die Erste, die kein Mitleid mit mir hat! Ich verabscheue es, wenn die Menschen mich mit diesem mitfühlenden Blick ansehen, wenn sie so tun, als bemerkten sie meine Unbeweglichkeit nicht. Dabei kann ich nicht mehr laufen und mich kaum noch bewegen. Ich bin ein Krüppel!»
«Ich hatte nur kein Mitleid mit Ihnen, weil Sie so unverschämt waren», stieß Paulina betroffen hervor.
«Aber das ist es ja! Ich danke Ihnen dafür, Mademoiselle, dass Sie mich wie einen ganz gewöhnlichen, gesunden Mann behandelt haben. Sie können sich nicht vorstellen, was das für mich bedeutet. Sie haben etwas gut bei mir, gnädiges Fräulein.» Er lächelte gönnerhaft. «Wen hofften Sie hier anzutreffen? Lassen Sie mich raten! Eine junge Dame wie Sie kann nur unseren großen Herzensbrecher gemeint haben, den Enkelsohn der Gräfin Bahro. Geben Sie es zu, Sie sind lichterloh entbrannt für ihn!»
«Er ist doch mit der
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