Die Seidenbaronin (German Edition)
Gräfin Bahro nach Straßburg gekommen, nicht wahr?», fragte Paulina.
Der junge Mann verzog gequält das Gesicht. «Ich konnte es kaum ertragen, dass er hier herumscharwenzelte. Er leistete mir höflich Gesellschaft und schaute mich mit seinen ernsten, klugen Augen an, aber ich konnte ihm genau anmerken, dass er nur darauf wartete, endlich von mir fortzukommen. Jeden Tag war er auf einem anderen Fest …»
Paulina ließ ihn nicht weiterreden. «Und wo ist er jetzt?»
«Du hast ein unvergleichliches Talent, dich in Dinge einzumischen, die dich nichts angehen!», ertönte in diesem Moment die schneidende Stimme der Gräfin Bahro.
Erschrocken fuhr Paulina herum.
Im Türrahmen stand ihre Großtante und schüttelte den Kopf.
«Hat man dir nicht gesagt, dass du im Salon auf mich warten sollst?»
Paulina setzte ein unschuldiges Lächeln auf. «Ich hörte Geräusche aus dem Nebenzimmer, und da wurde ich neugierig …»
«Red keinen Unsinn! Ich mag zwar ein gewisses Alter erreicht haben, aber das heißt noch lange nicht, dass man mich für dumm verkaufen kann.»
«Die junge Dame und ich haben uns angeregt unterhalten, Madame», mischte sich der junge Mann im Lehnstuhl ein.
«Das glaube ich gerne», bemerkte die Gräfin Bahro scharfzüngig. «Meine Großnichte versteht es meisterlich, alle um den Finger zu wickeln. Paulina, ich würde dich gerne unter vier Augen sprechen. Wenn du so freundlich wärst, mich in den Salon zu begleiten …»
Das junge Mädchen machte Anstalten, ihr zu folgen.
«Es hat mich außerordentlich gefreut, Sie kennenzulernen, Mademoiselle», rief der junge Mann im Lehnstuhl ihr hinterher. «Ich hoffe, wir sehen uns noch einmal wieder.»
Paulina blieb stehen und drehte sich um. «Ich glaube kaum, Monsieur.»
Der Rotschopf grinste geheimnisvoll. «Nun, man kann nie wissen … Viel Glück bei Ihrer weiteren Suche nach Herrn von Bahro. Dieses Mal sind Sie leider zu spät gekommen. Der junge Graf ist längst abgereist. Wenn Sie mich fragen, hat er vor, sich auf seiner Kavaliersreise ausgiebig die Hörner abzustoßen.» Er brach in ein meckerndes Gelächter aus. «Ich hätte ihm ein paar kluge Ratschläge geben können, aber er wollte sie nicht hören …»
Paulina wandte sich ab und verließ – das dröhnende Lachen des Rotschopfs im Ohr – fluchtartig den Raum.
«Wo bleibst du?», ertönte die strenge Stimme der Gräfin Bahro aus dem Flur.
Im Zimmer nebenan sah die Großtante Paulina mit verärgert zusammengekniffenen Augen an.
«Deine Eskapaden werden nicht immer ein gutes Ende finden, mein Kind», sagte sie in scharfem Ton. «Wie kommst du dazu, im Haus von Madame de Longeaux herumzuspionieren?»
«Es gab einen lauten Knall im Nebenzimmer. Ich dachte, es sei etwas passiert und ich könne helfen. Dabei traf ich auf den jungen Herrn im Lehnstuhl, dessen Buch heruntergefallen war. Wer ist er überhaupt?»
Die Miene der Gräfin entspannte sich etwas.
«Bedauernswert, der junge Mann, nicht wahr? Roger ist ein Neffe von Madame de Longeaux. Er hatte vor einiger Zeit einen schweren Jagdunfall. Sein Pferd ist über eine Baumwurzel gestolpert. Er kann nicht mehr laufen und sich kaum noch bewegen. Wie schnell sich ein Leben ändern kann! Früher verkehrte Roger am Hof von Versailles. Durch sein ausschweifendes Leben hatte er so hohe Schulden, dass von seinem ererbten Vermögen fast nichts mehr übrig war. Also ist er schließlich bei seiner Tante in Straßburg gelandet … Sie war die Einzige, die sich seiner annehmen wollte.»
«Wie tragisch!», entfuhr es Paulina ehrlich betroffen.
«Nun, wenn Roger noch der kraftstrotzende, arrogante und in sich selbst verliebte Herr Graf von früher wäre, wüsste er vielleicht nicht einmal, dass seine Tante existiert.» Die Gräfin machte eine ungeduldige Handbewegung. «Aber ich habe dich nicht hierherkommen lassen, um über Roger de Longeaux zu sprechen. Du erinnerst dich vielleicht, dass ich einen Kurier an den Niederrhein geschickt habe, um deinen Vater von Sophies Tod in Kenntnis zu setzen. In meinem Schreiben habe ich ihn gefragt, ob er dich zu sehen wünscht.»
Um den Vater am Niederrhein ging es also nur! Enttäuscht verzog Paulina den Mund. Sie hatte diesen Vater und den Brief an ihn längst wieder vergessen. Und dafür war die Gräfin extra nach Straßburg gekommen?
«Glaub mir», fuhr Frau von Bahro fort, «diese Angelegenheit hat mich so manche schlaflose Nacht gekostet – und ich pflege im Allgemeinen einen gesunden Schlaf zu
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