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Die seidene Madonna - Roman

Die seidene Madonna - Roman

Titel: Die seidene Madonna - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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seine Werkstatt zu übernehmen, aber sie durfte nicht mit den eigenen Erzeugnissen handeln. Dafür hätte sie einen Meister einstellen und ihm quasi den gesamten Gewinn auszahlen müssen.
    Um das zu umgehen, musste sie selbst Mitglied in der Webergilde des Nordens werden. Das war aber nur möglich, wenn sie der Gilde ein Meisterstück präsentierte. Natürlich war Alix
die zweite Möglichkeit lieber, und sie arbeitete kontinuierlich darauf hin.
    Nach reiflicher Überlegung webte Alix nun Tag und Nacht an dem Stück, das sie der Gilde präsentieren wollte, und war fest entschlossen, gleich zu Beginn des Frühlings nach Amboise zu reisen und den König über die Vermittlung der Comtesse d’Angoulême um seine Patenschaft zu bitten.
    Diese Zeit hatte große Ähnlichkeit mit ihren ersten gemeinsamen Monaten in Tours gehabt, als Jacquou und sie auch Tag und Nacht arbeiteten und lieber in der Werkstatt schliefen, als für die Nacht in ihre kleine Wohnung zu gehen. Jetzt musste sie sich allein auf die dicke Decke in einer Ecke der Werkstatt legen, die ihr als Bett diente. Wenn sie nachts in der Werkstatt blieb und arbeitete, kümmerten sich Bertille oder Lisette um den kleinen Nicolas.
    Der Teppich, an dem sie arbeitete, ähnelte einigen Fragmenten aus dem Ensemble, das für die Comtesse d’Angoulême bestimmt war. Alix hatte es Die Jungfrau und das Einhorn genannt und war sehr darauf bedacht, kein fremdes Werk zu kopieren, weil die Weber sehr schnell der widerrechtlichen Aneignung bezichtigt wurden, wenn sie einzelne Motive aus einem bekannten Wandteppich in ihre Ensembles aufnahmen. Schließlich wusste Alix nur zu gut, dass sie die Teppichweber von Tours beobachteten und sie sich keinen Fehler erlauben durfte.
    Alix hatte es im Laufe der Zeit für sinnvoll erachtet, einige Veränderungen an ihrer Arbeit vorzunehmen. Das lag an den berühmten historischen Wandteppichen, die Sire Jean Le Viste, ein edler Herr aus Lyon, etwa zehn Jahre zuvor für die Hochzeit seiner Tochter in Auftrag gegeben hatte und die den Titel Die Dame mit dem Einhorn trugen. Auf ihrem Meisterstück für die Gilde waren eine Frau, ein Einhorn und einige andere Tiere zu sehen, auf dem
Teppich für die Comtesse d’Angoulême fügte sie noch eine Dame, ein junges Mädchen und einen jungen Herrn in verschiedenen Szenen aus dem Leben auf einem Schloss hinzu.
    Für beide Teppiche verwendete sie dagegen unterschiedliche Motive wie Standarten schwenkende Löwen, dichtes Strauchwerk, Blumen, kleine Waldtiere, zumeist Hasen, Rebhühner und Auerhähne, und Mondsicheln.
    Alix wusste, dass sie diese Motive interpretieren konnte, wie sie wollte, und weil ihre Bedeutung sehr von den jeweiligen Künstlern abhängig war und es keinen Code gab, nach dem man sie entschlüsseln konnte, verwendete jeder Künstler die Symbole nach eigenen Kriterien und Vorstellungen.
    So standen die Einhörner und Jungfrauen von Alix mal für Liebe oder Treue, mal für Keuschheit oder Kraft, oder für Beharrlichkeit.
     
    Alix ging um die Kirche Saint-Pierre herum, weil sie sehen wollte, wo Jacquou mit den vielen anderen Opfern begraben worden war. Das große Feld mit den Gräbern lag hinter der Kirche. Dort blieb sie eine Weile stehen und betrachtete die Erde, die sich allmählich erholte, wie man an den Wurzeln und dem sprießenden Unkraut erkennen konnte.
    Sie wusste, dass es weiter unten noch ein anderes Grundstück gab, das dem Kloster neben der Kirche als Gemüsegarten diente, und auf einem dritten, noch weiter unten, das bis ans Flussufer reichte, hatte man eine Seidenraupenzucht angelegt. Seit der Herrschaft von Louis XI. versorgte Tours nämlich alle großen europäischen Hauptstädte mit Seide.
    Als sich Alix gerade wieder zur Kirche umdrehen wollte, packten sie zwei Hände von hinten an den Schultern. Sie schrie zwar laut, aber da war es schon zu spät. Jemand hielt sie fest und zog
sie weg, dann wurde sie von zwei weiteren Armen ziemlich unsanft in die Zange genommen.
    »Was wollt Ihr von mir?«, brüllte sie.
    »Wir nehmen dich auf die Wache mit.«
    Alix musste erst nach Luft schnappen, protestierte dann aber entschieden:
    »Ich will aber nicht auf die Wache!«
    »Dann schleppen wir dich eben hin.«
    Alix versuchte sich zu befreien, erreichte aber lediglich, dass die beiden Männer noch wütender wurden.
    »Auf welche Wache wollt Ihr mich überhaupt bringen?«, rief sie.
    Der größere von beiden gab ihr einen derart heftigen Stoß, dass sie gestürzt wäre, wenn sie nicht

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