Die seidene Madonna - Roman
brillierte auf den unterschiedlichsten Gebieten, was Vater Mirepoix im Laufe der Jahre nicht verborgen geblieben war. Deshalb hatte der Seidengroßhändler den Älteren auch aus großer Güte als Sohn anerkannt.
Der Jüngere hatte seinen großen Bruder von Anfang an bewundert und seine schwierige Stellung in der Familie gestärkt. Wäre der Ältere aber schön, ehrgeizig und elegant gewesen und die Frauen von ihm hingerissen, hätten sich die beiden Brüder sehr wahrscheinlich längst nicht so gut verstanden.
Doch das war ja nun nicht der Fall. Jacques hatte seinen Bruder nie zusammen mit Frauen gesehen; er steckte von klein an die Nase in die Bücher, und wenn er etwas sagte, dann stellte er meist Fragen nach dem Sinn des Lebens.
Jacques wusste außerdem, dass sein Bruder schon immer Priester werden wollte. Deshalb war es für ihn auch keine Überraschung, als der Bruder noch sehr jung in ein Kloster eintrat, wo ihn die Mönche in allem unterwiesen.
Im Laufe der Zeit gewöhnte sich Jacques etwas an Alix und benahm sich ungezwungener und nicht mehr so kühl und ablehnend, wie es ihr zu Anfang vorgekommen war.
»Ihr habt gut daran getan, meinen Bruder um Rat zu fragen, weil Ihr eine Frau seid und alle Frauen schwach sind. Er wird Euch mit Sicherheit ein kluger und nützlicher Ratgeber sein.«
»Nein, Alix ist nicht schwach«, widersprach ihm sein Bruder. »Sie befindet sich lediglich gerade in einer sehr ungünstigen Lage. Das ist aber nur vorübergehend.«
»Ja, das stimmt«, sagte Alix. »Sobald meine Werkstatt wieder aufgebaut ist, wird alles gut.«
Jacques Mirepoix war etwas überrascht von dem schroffen Ton und beließ es bei der Bemerkung.
»Dafür wünsche ich Euch jedenfalls viel Glück«, sagte er einlenkend.
Dann nahm er André in den Arm und ging mit ihm ein paar Schritte ans andere Ende des Zimmers - Alix und Julio blieben allein nebeneinander auf dem Sofa zurück. Alix lächelte Julio an,
schenkte dann aber ihre ganze Aufmerksamkeit den beiden Männern, die sich ein wenig zurückgezogen hatten und eifrig diskutierten.
»Hast du noch einmal darüber nachgedacht, was wir bei unserem letzten Treffen besprochen haben? Willst du wirklich deine Pfarrei im Bistum Reims verlassen?«
»Ja, mehr denn je.«
»Und wirst du dann auch meinen Vorschlag annehmen?«
André machte sich aus der Umarmung seines Bruders frei, der ihn immer noch fester halten wollte, und lachte.
»Ja, natürlich, wenn du mir hilfst.«
»Ich will dich unterstützen, damit du in der Kirche zu höheren Würden kommst. Sobald du aus Italien zurück bist, sollst du im Bezirk Lyon zum Domherrn ernannt werden.«
»Warum denn nicht in Tours? Dort könnte ich unseren Seidenhandel betreiben. In Lyon würde ich mich ganz überflüssig fühlen. Dort gibt es bereits derart viele Seidenhändler, Seidenmakler und Seidenraupenzüchter, dass es für mich nichts zu tun gäbe.«
»Da hast du vermutlich recht. Aber vielleicht gibt es im Bistum Tours zurzeit kein passendes Amt für dich.«
»Das ist leider mehr als wahrscheinlich«, musste André zugeben.
Nachdenklich kratzte sich Jacques mit Daumen und Zeigefinger am Kinn, starrte auf den Wandteppich vor sich und erklärte dann:
»Ach was, wir bitten einfach Vater, einen neuen Posten für dich zu schaffen! Wenn sie ein paar schöne Goldstücke kriegt, wird die Kirche kaum nein sagen. Ich übernehme es, mit Le Viste zu reden. Ich bin sicher, dass er unsere Bitte unterstützt.«
Die Kutsche von Vater Mirepoix hielt vor dem Haus, und drei Männer stiegen aus: Robert Mirepoix, Jean Le Viste und Louis Le Viste. Sie blieben einen Moment unschlüssig stehen, weil ein warmer Frühlingsregen über der Stadt niederging; ein eintönig grauer Tag löste das anhaltend schöne Wetter der vergangenen Wochen ab.
Ein Stallknecht kam zum Kutscher gelaufen und nahm ihm die Zügel ab. Er hielt sie kaum in der Hand, als auch schon die beiden Brüder Mirepoix auf der Treppe zur Empfangshalle erschienen.
»Seid gegrüßt, mein lieber Vater, es freut mich sehr, Euch hier zu sehen. Ich möchte etwas in Gegenwart meines Bruders mit Euch besprechen, der hier ein paar Tage Station macht, ehe er nach Italien aufbricht.«
»Nach Italien! Großer Gott! Was ist denn mit Eurem Bruder los, dass er seiner düsteren Provinzpfarrei den Rücken kehrt?«
Dann ging er zu André und umarmte ihn unter den zufriedenen Blicken von Jacques herzlich.
»Habt Ihr nicht schon tausend Mal gesagt, dass Ihr mich gern anderswo sehen
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