Die seidene Madonna - Roman
Dafür bin ich Euch wirklich sehr dankbar, Dame Cassex.«
Für Alix klangen seine Worte eher nach einer Entschuldigung als nach dem Ausdruck höflichen Interesses an ihrer Person. Deshalb fühlte sie sich beruhigt, blieb aber weiter auf der Hut. Anschließend wandte sich Jacques Mirepoix an seinen Bruder und begann mit ihm eine ausführliche Diskussion über familiäre Angelegenheiten, bei der sich Alix und Julio ziemlich fehl am Platze vorkamen.
Das Haus der Mirepoix’ lag in der Nähe des Seilerviertels, also nicht weit weg vom Handwerkerviertel. Alix machte sich sehr schnell mit der Atmosphäre auf den Straßen und in den Gassen vertraut und merkte sich einige auffällige Gebäude oder größere Läden, damit sie manchmal auch allein, ohne ihre beiden Kavaliere, über die breiten Straßen flanieren konnte.
Da Julio nichts zu tun hatte, verbrachte er einen Großteil seiner Zeit auf dem Fourvière, wo er sich ein wenig wie in der beruhigenden Stille des Vatikans fühlte.
Alix dagegen war fast die ganze Zeit in den Straßen von Lyon unterwegs. Von der Rue Descorchebœuf ging es in die Rue de l’Arbre-Sec, wo man praktisch den ganzen Tag die Räder der Seiler klappern hörte. Manchmal blieb sie auch stehen und sah den Seilern zu, wie sie mit geschickten Händen die Litzen ans Rad knoteten, indem sie die Seile ineinander verdrehten.
Von der Rue de l’Arbre-Sec erreichte sie bald die Rue Habergerie mit den vielen kleinen Werkstätten von Illuminierern und Pergamentmachern. Weiter entfernte sie sich nicht vom Haus Mirepoix, aus Angst, sich sonst zu verlaufen. Manchmal schaute sie dann hinauf zum Fourvière, wo Julio spazieren ging, und stellte sich vor, dass er einen Prälaten getroffen hätte, mit dem er über seinen Glauben und vor allem über sein Zögern diskutieren konnte, welchen Weg er einschlagen sollte. Deshalb fürchtete sie auch jeden Tag, er würde ihr erklären, dass er sich nun doch für die Kirche entschieden hätte.
Was sollte dann aus ihr werden? Jacquou lebte nicht mehr, und Arnold, dem sie voll und ganz vertraut hatte, arbeitete inzwischen anderswo. Vielleicht würde Mathias eines Tages auch gehen und seinen Sohn Nicolas mitnehmen, wenn sie nach ihrer Rückkehr seine Liebe noch immer nicht erwiderte. Alix seufzte. Auf keinen Fall durfte sie sich von ihrem Unglück erdrücken lassen. Die Pest hatte ihr Jacquou genommen, ihr erster Sohn war in Cognac gestorben, der zweite in Tours! Was konnte sie jetzt noch anderes tun, als sich mit aller Kraft in die Arbeit zu stürzen? Jean de Villiers half ihr bestimmt, und mit den großen Aufträgen, die sie bekommen hatte, und einem guten Darlehen konnte sie ihre Werkstätten wieder aufbauen.
Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie auf dem Heimweg war. Zum Haus der Mirepoix war es nicht mehr weit. Sie konnte schon den großen Vorplatz sehen, auf dem die Kutsche
der beiden Brüder stand und darauf wartete, sie irgendwohin zu bringen, wo wichtige Geschäfte verhandelt wurden.
Als sie die Eingangshalle betrat, waren die beiden in eine heftige Diskussion vertieft. Jacques gestikulierte und machte mit lauter Stimme sehr enthusiastische und kühne Bemerkungen, während ihm sein Bruder ruhig und überlegt antwortete und dazu zustimmend mit dem Kopf nickte.
Die beiden Brüder Mirepoix waren so verschieden, dass man leicht glauben konnte, sie seien sich völlig fremd. Der groß gewachsene, schlanke Jacques mit seinen kastanienbraunen Haaren und hellen Augen benahm sich wie ein vornehmer Herr und kleidete sich luxuriös wie die Großbürger, die das einfache Volk beeindruckten. Sein makellos geschnittenes Gesicht zeugte von der Überheblichkeit des kleinen Provinzherren, der mit seinem Nachbarn, dem Schlossbesitzer, mithalten kann.
André dagegen sah man seine starke Persönlichkeit und sein eigenwilliges Wesen auf den ersten Blick an. Mit seinen braunen Haaren, den dunklen, schmalen Augen, seiner kleinen, eher rundlichen Gestalt und seinem breiten, roten Gesicht mit dem vorstehenden spitzen Kinn, auf dem immer Bartstoppeln zu sehen waren, wirkte er irgendwie unverwechselbar. Außerdem sah man André Mirepoix’ wachen Augen an, dass er der Klügere von beiden war.
Alix hatte sofort das ausgezeichnete Verhältnis zwischen den beiden bemerkt. André, dem Älteren, dessen Mutter zwar keine Dame Mirepoix, aber selbst im Besitz eines beträchtlichen Vermögens gewesen war, fehlte es ganz offensichtlich an nichts. Außerdem war er hochintelligent und
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