Die seidene Madonna - Roman
erreichte die Kutsche die Stadtmitte von Brügge. Durch die alten Gassen um die Kathedrale mit ihrem ausgetretenen, holprigen Kopfsteinpflaster floss ein schmutziges Rinnsal aus den verschiedensten Fäkalien, die nur bei starkem Regen weggespült wurden.
Leo war begeistert von der Stadt. Er meinte, er würde bald jeden Winkel kennen, jeden Platz und jedes Gasthaus. Er behauptete sogar, er wüsste, wo es das beste Bier der Stadt gab, nämlich in den Tavernen in den armen Stadtvierteln, die Alix und Angela aber nicht aufsuchen konnten, ohne das Missfallen der Leute zu erregen.
Noch hatte der Verfall von Brügge nicht begonnen, aber die Stadt, die im vorhergehenden Jahrhundert erstaunlich reich gewesen war, erlebte bereits die Abschaffung einiger Privilegien zugunsten von Italien, dessen Kunst gerade ihre Blütezeit erlebte.
Die ersten roten Backsteinhäuser mit ihren großen zweiflügeligen Türen und die steilen Gassen mit ihren stattlichen Bürgerhäusern mit Türmchen und Stufengiebeln führten sie zum Rathausturm, dessen Glocken viermal am Tag läuteten und im Alltag der Einwohner von Brügge den Takt angaben.
Als Alix dort eintraf, läutete das Glockenspiel gerade, und so
wusste sie, dass ihr noch genug Zeit bis zu dem Treffen mit dem Bankier Van de Veere blieb, das sie sofort nach ihrer Ankunft in Brügge verabredet hatte. Ein kleiner Spaziergang durch die Stadt tat ihr bestimmt gut und half ihr vielleicht, ihre Gedanken zu ordnen - sie war doch noch etwas verschlafen.
Sie bat Leo, zu den Markthallen zu fahren, wo sich das einfache Volk aufhielt. Von dort aus konnte man die Kuppel der Basilika Saint-Sang und die Türme der Kathedrale sehen.
In den engen Gassen zwischen den Backsteinhäusern vervielfältigten sich die Geräusche der Stadt wie bei einem Echo. Man hörte die schrillen Schreie der Hausierer, die ihre Ware auf einem Brett vor dem Bauch trugen, die Rufe der Krämer, der Handwerker und der Verkäufer, die Kerzen, Besen und Holz anboten, die der Stuhlflechter, der Silberpolierer und der Wasserträger.
An den Brücken klatschten die Wäscherinnen das schmutzige Wasser aus ihrer Wäsche. Eine kniete neben der anderen, und mal schauten sie auf ihre Weidenkörbe, die zu bersten drohten, mal in den Himmel, um zu sehen, welche Farbe er hatte. Sie waren blass, die meisten hatten blaue Augen und bewegten sich flink, und ihre Hauben und Schürzen waren immer blitzweiß. Manche sangen oder lachten trotz des kalten Wassers, von dem ihre Hände ganz verschrumpelt waren.
Und in dieses ganze Durcheinander blies der Wind vom nahen Meer über das flache Land eine frische Brise in die Stadt, obwohl es schon sommerlich warm war und noch schönere Tage bevorstanden, und manchmal vermischte er sich mit den rauen Schreien der Möwen, dem Geläut vom Rathausturm und den Glocken des Beginenklosters.
Gerade als Leo ihre Kutsche von den Wäscherinnen weg Richtung Basilika Saint-Sang lenkte, sprachen ihn zwei berittene Wachmänner an und versperrten ihm die Straße.
»Was ist denn los?«, fragte Alix, die aus dem Wagen gesprungen war, als ihr Kutscher Halt machte.
»Hier könnt Ihr nicht durch!«, rief einer der Reiter und stieg von seinem Pferd ab. »Das Fest zur Begrüßung der venezianischen Galeeren hat gerade begonnen.«
»Mir hat man aber gesagt, dass es erst am Abend beginnt«, widersprach Alix und ging auf den Mann zu. »Was sollen wir denn jetzt machen? Ich muss unbedingt in einer knappen Viertelstunde bei der Basilika sein.«
Der andere Reiter bohrte seine Hellebarde mit der Spitze in die Erde und sprang nun auch vom Pferd.
»Dann müsst Ihr eben einen Umweg machen, erst aus der Stadt hinaus und dann an der Stadtmauer entlang bis zum Südtor.«
»Das ist ganz unmöglich«, protestierte die junge Frau. »Ich bin doch nur wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem ich mich in zehn Minuten mit einem Bankier treffen will.«
»Tut mir leid, aber da lässt sich nun mal nichts machen«, entgegnete der andere und drohte ihr mit seiner Hellebarde.
»Ist ja schon gut«, versuchte ihn Alix zu beruhigen.
Dann wandte sie sich an ihren Kutscher.
»Steig wieder auf, Leo. Wir wollen es mit dem Weg versuchen, den uns die beiden Wachmänner genannt haben. Hoffentlich nimmt mir Sire Van de Veere die Verspätung nicht allzu übel.«
Die beiden Reiter standen breitbeinig da, den Oberkörper mit dem Kettenhemd aufrecht und die Hellebarde mit der Spitze nach oben, und sahen zu, wie die Kutsche umkehrte. Als sie sich
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