Die seidene Madonna - Roman
unabhängige Verwaltung. Die Residenzen der früheren Könige von Frankreich in Tours auszustechen, entwickelte sich allmählich zu seinem Hauptinteresse. Und die Bewohner von Blois waren sich durchaus bewusst, welche positiven Folgen diese Veränderungen für sie nach sich zogen. Warum hätten sie sich diesen Vorteilen verschließen sollen?
Der König war früh aufgestanden. Sein Berater und sein Sekretär wollten ihn bald aufsuchen, wahrscheinlich in Begleitung seines guten alten Freundes, des Kardinals Jean de Villiers aus dem Vatikan.
Er ging zu dem Tisch, dessen Beine auf Reisen abgeschraubt werden konnten, nahm die Schriftrolle, die dort lag, und blickte aus der einzigen Öffnung, die sein Zelt hatte. Durch das improvisierte Fenster im Samt konnte er sehen, dass seine Truppen - mit Ausnahme der beiden Nachtwächter - noch schliefen.
Er legte das Dokument wieder zurück und gönnte sich noch ein wenig Zeit für angenehme Gedanken an seine schöne Stadt Blois. Immer wieder kamen ihm Fragen in den Sinn, auf die er keine Antwort fand. Welche erlesenen Genüsse konnten ihm seine italienischen Eskapaden schon bieten, verglichen mit seiner
unbändigen Sehnsucht, Blois wiederzusehen, die zukünftige Hauptstadt seines Königreichs und bald Mittelpunkt aller Festivitäten?
Zu viel verband ihn mit dieser Stadt, in der er seine gesamte Jugend verbracht hatte. In Blois erwarteten ihn sein väterliches Erbe, seine Erinnerungen, Träume und Hoffnungen!
Er ging zu dem dicken Behang, der die Tür verschloss, und schob langsam die beiden schweren Samtbahnen auseinander. Auf der Innenseite der Zeltwände waren schöne Millefleurs mit Jagdszenen angebracht. Vor dem Zelt standen die Hellebardiere reglos, den Blick geradeaus und wie erstarrt in ihrer Wachpositur.
Während er auf seine Untergebenen wartete, kehrten seine Gedanken zu seinem italienischen Steckenpferd zurück. Weil er sich wegen seiner Eroberungslust, was Italien anbelangte, schuldig fühlte - in der Hinsicht war er genauso wie Charles VIII. -, ließ er im Gegenzug der Königin weitgehend freie Hand. Anne entschied immer wieder verschiedene ökonomische Fragen und genierte sich gleichzeitig wenig, ihm Pensionen, Schenkungen, Renten und verschiedene andere Einkünfte abzunötigen, mit denen sie ihren persönlichen Wohlstand mehrte oder den Lebensstil an ihrem Hof aufbesserte. Im Augenblick machte sich Louis darum keine Sorgen, er träumte lieber von dem bezaubernden Italien oder von den heißblütigen, feurigen jungen Herren, zu denen sich die noch unerfahrenen und leidenschaftlichen früheren Feldherrn gesellten, weil sie an dem Ruhm teilhaben wollten. Und das umso mehr, weil ihnen dieser Kampf die logische Folge der ritterlichen Heldentaten des vorhergehenden Jahrhunderts schien. Eine Idee, die sogar die größten Hitzköpfe begeistert hat!
Daran gewöhnt, ließ Anne diese unerfreulichen Momente ruhig
verstreichen und rächte sich auf ihre Weise. Mit Louis erlaubte sie sich, was sie bei Charles nie gewagt hätte: Geschrei und Tränen und endloses Gejammer und Gezänk, wenn es ihr um ein wichtiges Privileg ging, das ihr der königliche Gatte nicht sofort zugestehen wollte. Und da der König äußerst empfänglich für weibliche Zärtlichkeitsbekundungen war, vor allem wenn sie von seiner eigenen Frau kamen, zog er es lange vor, den Erpressungen nachzugeben, um seinen Frieden zu haben.
Louis ging zu dem Tisch zurück und setzte sich, um endlich das Dokument zu lesen, das er zuvor geöffnet hatte. Damit das Zelt behaglich wirkte, hatte man kostbare dicke Teppiche ausgelegt, mit denen nun seine noch nackten Füße spielten.
Kaum hatte er jedoch die Papiere zur Hand genommen, als ihm einer der Hellebardiere vor dem Zelt die Ankunft von Georges d’Amboise meldete.
Ein großer, kräftiger Mann mit braunem Haar und finsterer Miene kam herein. Er bewegte sich recht ungezwungen und war ungefähr so alt wie der König. Von seiner Soldatenuniform ließ sich manch einer täuschen, trug er sie doch auf Feldzügen viel lieber als seine Prälatenrobe. Georges d’Amboise entstammte einem alten Soldatengeschlecht, dem er mit seinem heldenhaften Verhalten - trotz seines geistlichen Titels - alle Ehre machte.
Als Soldat war er überaus geschickt und wusste zu täuschen, zu umgehen und zu befehlen. Als Prälat war er nicht weniger raffiniert und wandte sich immer in die Richtung, aus der der Wind blies.
»Mein lieber d’Amboise«, rief der König und ging auf ihn zu, »wie
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