Die seidene Madonna - Roman
gegrübelt hatte, »allein mit zwei Geheimnissen, die ich dir anvertrauen muss. Dann erst kann ich in Frieden sterben.«
»Sterben! Ihr seid doch noch so jung«, meinte Jacquou ratlos.
Jean schüttelte den Kopf. Mit seinen glühenden Augen musterte er Jacquou so eindringlich, dass der ganz verwirrt war.
»Du bist der junge Mann«, sagte er mit einem Seufzer. »Ich bin nur ein alter Kardinal, der es eilig hat, dir ein Geheimnis zu enthüllen, das vielleicht deinen guten Ruf mehren wird. Auf keinen Fall darf ein anderer davon erfahren.«
Er ging zu einer großen Truhe, schloss sie auf und kam mit einem rot lackierten Kästchen zu Jacquou zurück, das er öffnete, um einige Rollen Seidengarn herauszunehmen.
»Sieh sie dir genau an. Es sind ganz gewöhnliche Fäden, sie wirken aber so edel und hochwertig wie orientalische Seide, weil sie aus Konstantinopel kommen.«
Jacquou streckte seine Hand aus, und Jean gab ihm die Rollen.
»Sie haben einen besonderen Glanz«, sagte er und betrachtete sie ausgiebig. »Ich habe manchmal mit ähnlich schönen Fäden gearbeitet, als ich noch bei Maître de Coëtivy war.«
»Nennst du ihn eigentlich nie ›mein Vater‹?«, fragte ihn Jean ernst.
»Er hat mich nie darum gebeten.«
Der Kardinal schüttelte traurig den Kopf. Was wohl aus dem
Jungen geworden wäre, wenn er sich schon damals um ihn gekümmert hätte und nicht dieser Weber? Doch diese Frage verdrängte er schnell wieder, weil sie zum zweiten Teil seines Geheimnisses gehörte, den er erst später ansprechen wollte.
»Ja, es ist ein hervorragender Seidenfaden. Die italienischen Künstler sind ganz verrückt danach. Ich möchte dir aber zeigen, dass man mit anderen, viel einfacheren Fäden dieselbe Wirkung erzielen kann.«
Er nahm ihm die Rollen wieder ab.
»Die orientalischen Weber kennen eine Technik, mit der sie sich behelfen, wenn sie keine kostbaren oder schwer zu erhaltenen Fäden haben, sie aber einen schönen Goldglanz für ihre Motive brauchen.«
»Wie soll das gehen?«
»Schau mir zu.«
Jean nahm einige einzelne Wollfäden, die sorgsam in der kleinen lackierten Holzkiste verwahrt waren. Nachdem er einen blauen und einen gelben zusammengefügt hatte, um Grün zu erhalten, nahm er nun noch einen mit Wau gefärbten Seidenfaden dazu; dann wiederholte er die Prozedur mit den Seidenfäden, zu denen er einen gelben Wollfaden gab. Als er sie nebeneinanderhielt, funkelten sie golden. Sie schimmerten so kostbar, als wären sie aus Goldfaden gemacht.
»Es ist unglaublich!«, murmelte Jacquou staunend und ungläubig. »Darauf musste man erst einmal kommen. Und es gibt wirklich niemanden, der dieses Geheimnis kennt!«
»Die Italiener verwenden ausschließlich Goldfäden, weil sie viel mit den orientalischen Ländern handeln. Die Flamen arbeiten wie du weißt mit Fäden aus Arras, Seidenfäden aus Lyon und Wollmischungen.«
»Wo habt Ihr diese Technik erlernt?«
»In bescheidenen kleinen Weberwerkstätten im Orient - dort, wo es kein Gold gibt. Nachdem du dir Goldfaden ebenfalls nur selten und in kleinsten Mengen leisten kannst, webe alles, was glänzen soll, so wie ich es dir eben gezeigt habe. Und verrate dein Geheimnis keinem Menschen außer Alix!«
»Aber warum habt Ihr es mir verraten, Jean?«
»Weil … »Er zögerte. Nun war es an der Zeit, den zweiten Teil seines Plans durchzuführen. Er sah Jacquou mit seinen leuchtend schwarzen Augen unverwandt an und sagte leise:
»Weil du mein Sohn sein könntest.«
»Das weiß ich aber doch, Jean. Als meine Mutter starb, bat sie Euch, mich zu Maître de Coëtivy, meinem Vater, zu bringen. Das habt Ihr Isabelle eines Tages gestanden, und sie hat es mir erzählt.«
»Du weißt nicht, dass sie mich auch gebeten hatte, ein Auge auf dich zu haben, solange ich lebe.«
»Aber das macht Ihr doch auch bis heute!«
»Ja, schon. Und das bleibt auch so bis zu meinem letzten Atemzug.«
Plötzlich hatte Jacquou einen Kloß im Hals. Er wollte schlucken, aber es ging nicht. Irgendwie hatte er das sonderbare Gefühl, die Zeit würde um fünfzehn Jahre zurückgedreht, bis dahin, als er Isabelle zum ersten Mal gesehen und sie ihm das Geheimnis seiner Abstammung enthüllt hatte.
Sein Hals war ganz trocken, seine Kehle brannte. Jean wollte ihm etwas anderes sagen. Er spürte es ganz deutlich, ohne zu verstehen, was ihn jetzt schweigen ließ.
Jean merkte, dass sein junger Freund unter seinem Schweigen zu leiden begann, und sagte:
»Vielleicht hätte ich die Aufgabe von de
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