Die seidene Madonna - Roman
merkwürdig groß vorkam.
Doch für einen Moment lehnte sie sich an das Fenster, ließ den Blick einfach in die Ferne schweifen und bewunderte das lange silberne Band des Flusses, das ganz allmählich in der einbrechenden Dunkelheit verschwand. Zu ihrer Linken sah sie die Tour de l’Echauguette mit ihren dicken Mauern und dem Rundgang, und zu ihrer Rechten das Wasser der Vienne, das sich im Schein der untergehenden Sonne rot färbte.
Ganz in Gedanken versunken betrachtete Alix den hellen Fluss,
der ruhig und friedlich zwischen seinen üppig grünen Ufern und den dichten Wäldchen dahinfloss. Vögel tauchten vor den rötlichen Streifen am Himmel auf und stießen spitze Schreie aus. Aufgeregt flogen sie hin und her, vermutlich auf der Suche nach ihrem Nest. Manchmal setzte sich einer von ihnen auf einen dünnen Zweig oder auf ein kleines Boot, ohne dass sich eines davon unter ihrem Gewicht auch nur im Geringsten bewegt hätte.
»Im Sommer ist die Vienne abends besonders schön«, hörte sie jemand hinter sich sagen. »Aber es ist sehr schwül, bestimmt kommt bald ein Gewitter.«
Alix drehte sich um, und Louise legte einen Arm um sie und blickte zum Fluss.
»Als ich diesen Fluss zum ersten Mal aus eben diesem Fenster hier sah, war ich vollkommen überwältigt. Seht nur, Alix, dies lange dunkle Band, das schon morgen wieder azurblau ist und mit dem Himmel verschmilzt. Im Sommer vereinigen sich seine goldenen Sandbänke mit seiner trägen Sinnlichkeit. Ihr werdet es sehen, sobald es Tag wird.«
»Die Natur ist zauberhaft, und ich kann sehr gut verstehen, dass Ihr diese Pracht gern von dem Fenster hier bewundert«, sagte Alix leise und nickte mit ihrem hübschen Kopf, dass die kastanienbraunen Locken auf ihrem Rücken hüpften.
Glücklich und zufrieden lächelte sie Louise an.
»Wie soll ich Euch nur für all das danken, was Ihr mir gebt, Louise? Euch habe ich wohl gerade die schönste Zeit meines Lebens zu verdanken.«
»Dann genießt sie in vollen Zügen, Alix! Diese Tage dauern leider nicht ewig.«
Die Tür wurde geöffnet, und Jeanne und Antoinette schauten herein. Sie schoben die Wandteppiche vor der Tür zur Seite und betraten das Zimmer.
»Habt Ihr gehört, dass sich Königin Anne nach der Tapisserie erkundigt hat, die der König bei Euch bestellt hat, Alix?«, begann Antoinette sofort. »Ich bin sicher, sie lässt Euch gleich zu sich rufen, um Euch kennenzulernen.«
»Das glaube ich kaum«, meinte Louise, »sie beschäftigt doch nur Stickerinnen aus der Bretagne.«
»Ja, richtig«, bekräftigte Jeanne. »Ihre Zimmermädchen und Zofen, Wäschenäherinnen, die Hoffräulein und Hofdamen kommen alle aus der Bretagne.«
Antoinette überlegte kurz und meinte dann: »Ich glaube, die Königin möchte Euch kennenlernen, weil Ihr bei dem Gespräch zwischen dem König und Eurem Mann dabei wart. Das ist nicht üblich. Könige sprechen mit Webern, aber nicht mit Weberinnen.«
»Da hat sie recht«, unterstrich Jeanne und lachte vergnügt. »Königin Anne ist von geradezu krankhafter Eifersucht. Sie wird richtig wütend, wenn der König einer hübschen Frau einen Gefallen tut. Und das betrifft auch Euch, Louise.«
»Der König erweist auch mir nicht immer seine Gunst«, sagte Louise lachend.
»Jedenfalls hat er sofort Eure Bitte erfüllt, als Ihr ihn höflich aufgefordert habt, doch nicht den jungen Meister Cassex zu vergessen, der sich gerade - welch ein Zufall! - innerhalb der Mauern von Schloss Chinon aufhielt! Und er hat Euch den Kredit gewährt, ohne den Ihr Eure eigenen Wandteppiche nicht hättet bestellen können.«
»Das ist allerdings wahr«, musste Louise zugeben, »aber soweit ich weiß, wollte er Eindruck auf Philipp von Österreich machen, indem er seine Tapisserien im Val de Loire und nicht in Brüssel in Auftrag gab.«
»Meine liebe Kleine«, sagte Antoinette an Alix gewandt,
»Louise hat Euch wirklich unter ihre Fittiche genommen. Sie hat sogar mit der Oberin des Konvents in Cognac gesprochen, in dem meine Tochter Madeleine lebt. Die Kapelle dort ist sehr groß, und sie möchte die Wände gern mit schönen Teppichen zur Geschichte von Christi Geburt schmücken. Wärt Ihr dafür zu haben?«
Die vier Frauen brachen in Gelächter aus, dann wandte sich Louise an ihre Freundin und drohte ihr zum Scherz mit dem Finger.
»Also Antoinette! Ihr seid doch eine unverbesserliche Schwatzbase. Eigentlich wollte ich Alix selbst mit dieser Frage überraschen, ehe sie uns verlässt.«
»Stellt Euch vor -
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