Die seidene Madonna - Roman
gerade eben arbeite ich an den Gesichtern italienischer Madonnen«, sagte Alix verwundert.
»Ärgert Euch nicht, Louise«, meinte Antoinette fröhlich. »Bestimmt habt Ihr noch andere Neuigkeiten für sie. Aber während Euer Mann über seinen Trojanischen Krieg nachdenkt, erzählt uns doch lieber, wie Ihr die Einhorn-Motive geplant habt, Alix.«
»Ich stelle mir sehr viele Allegorien vor, Engel, wilde Tiere …«
»Wilde Tiere?«
»Ja, Tiere aus der Sagenwelt, mit Schuppen auf dem Rücken, Hörnern, Flügeln spitz wie Schwerter und feurigen Drachenaugen. Vielleicht ein mehrköpfiges Wesen , das mein schönes, majestätisches, weißes, reines, himmlisches Einhorn angreift. Doch das Einhorn gewinnt natürlich, weil es sich von den Damen zähmen lässt.«
»Und wie sollen Eure Damen aussehen?«
»Ach, Louise, ich bin sicher, eine wird Euer Gesicht haben, Euer Lächeln und Eure Anmut. Das Einhorn soll eine Frucht aus ihrer Hand fressen und ihr zuhören, wie sie Klavichord spielt, und in seinen Augen soll sich die ganze Grazie seiner engelsgleichen Herrin spiegeln.«
Jeanne, die sich besser als die Freundinnen auf Stickereien aller Art verstand, hörte Alix gespannt zu.
»So soll Euer Einhorn also aussehen?«
»Ja, genau so.«
»Wollt Ihr denn auch ein Millefleurs machen?«
»Natürlich. Es geht nicht darum, die wunderbare Blüte aufzugeben, die sich für diese Art von Tapisserie anbietet. Ein Meer aus Vergissmeinnicht, Maßliebchen, Immergrün und Butterblumen soll zwischen den unterschiedlichsten Gräsern und Blättern erblühen.«
»Nehmt Ihr auch noch andere Tiere als Eure Drachen und vielköpfigen Fabelwesen dazu?«
»Wie könnte ich die ganze Tierwelt vergessen, die meiner Phantasie entspringt? Es muss unbedingt eine Reihe von Szenen mit Tieren geben, die es würdig sind, auf den großen Teppichen dieses Jahrhunderts abgebildet zu werden: Ein Löwe, ein Widder und vielleicht sogar ein Stier sollten dabei sein.«
Beim Gedanken an diese Bilder zappelte Alix wie ein kleines Mädchen, dem man ein schönes neues Spielzeug vor die Nase hält. Aufgeregt lief sie im Zimmer auf und ab und kam einmal zu Louise, dann zu Jeanne oder Antoinette.
»Es müssen auch ganz viele Allegorien sein. Die Freude und die Sorglosigkeit, die Heiterkeit, die Harmonie und der Friede. Ja, all diese Symbole sollen vorkommen. Flussnymphen tauchen aus den Wellen, Engel kommen aus den Wolken.«
Sie ging wieder zum Fenster.
»Seht nur diese kleinen Nachtvögel an, wie sie sich in der Unendlichkeit des dunklen Himmels verlieren! Prächtig und stolz sollen sie aussehen - wie das Herz mancher Frauen, die lange nach ihrem Lebenssinn gesucht und schließlich die Herausforderung gefunden haben, der sie sich hingeben wollen.«
Sie trat wieder zu ihren Freundinnen.
»Aber es wird keine religiöse Darstellung geben. Keinen Messias, auf den alle warten, keinen Heiligen, der segnet oder straft, keinen Teufel, der in Versuchung führt.«
»Also überhaupt nicht die Frage nach gut und böse«, sagte Louise und amüsierte sich über die Begeisterungsfähigkeit ihrer jungen Freundin.
»Nein, nur Engel, die ihre Flügel ausbreiten, um auf die Erde zu kommen. Ihren Gesichtern werden wir immer wieder begegnen. Man wird Marguerite und François bei ganz alltäglichen Verrichtungen sehen.«
Alix wandte sich an Louise.
»Wisst Ihr, dass ich die beiden sehr genau studiert habe? Inzwischen kenne ich jeden ihrer Gesichtsausdrücke, ihre Bewegungen und das typische Leuchten ihrer Augen.«
Alix besaß die erstaunliche Fähigkeit, mitreißend zu erzählen. Sogar der Klang der eigenen Stimme versetzte sie in immer größere Begeisterung. Louise lächelte zufrieden und sah, wie es Nacht wurde. Ihre Tochter und ihr kleiner Cäsar auf großen, schönen Wandteppichen, die einmal an den Wänden der Schlösser in Amboise, in Blois oder in Chinon hängen sollten. Diese Vorstellung konnte ihr nur gefallen.
»Da habt Ihr Euch ja einiges vorgenommen, meine Liebe!«
Aber Alix war noch gar nicht fertig.
»Der Himmel ist voller Trompeten und wehenden Bannern und Fähnchen, die sich entrollen wie in dem Wunder der wider spenstigen Maultiere . Und meine ›Damen‹ entspringen einem
Ensemble aus exotischen Blumen und Vögeln.«
Sie hielt einen Moment inne und fuhr dann ganz in Gedanken versunken fort:
»Weil Ihr mir diese Tapisserien so großzügig bezahlt, will ich
Euch eine andere schenken, Louise. Sie soll Begegnung am Hofe heißen, und auf diesem Teppich
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