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Die seidene Madonna - Roman

Die seidene Madonna - Roman

Titel: Die seidene Madonna - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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über das Pflaster holpern und das Läuten der Glocke, mit der er angekündigt wurde.
     
    Den Karren nannte man den Totenkarren, weil jedem, der darauf geworfen wurde, der sichere Tod bevorstand. Mittlerweile war die Pest überall ausgerufen worden. Ihren Höhepunkt erreichte sie, als jeder von seinem Fenster aus, ohne es zu öffnen, den Männern bei ihrer traurigen Arbeit zusehen konnte. Sie mussten die Leichen mit Hilfe einer großen Zange einsammeln, die an den Enden so geformt war, dass ihr die toten Körper nicht wieder entgleiten konnten.
    Dann wurden sie auf die Karren geworfen, die unter lautem Geläut durch die Straßen fuhren, und man brachte sie zu einer Grube außerhalb der Stadt, in der sie anschließend verbrannt wurden.

    »Ich kann das Weinen von dem Kind nicht mehr ertragen«, jammerte Florine und beugte sich über den kleinen Nicolas, der laut brüllte.
    Mathias war ratlos, er wusste einfach nicht mehr, wie er seine Frau noch beruhigen sollte. Von Tag zu Tag wurden ihre Angst und Unruhe größer.
    »Er braucht auf jeden Fall Milch«, meinte Alix und betrachtete das weinende Kind. »Du hast ihn ja gerade erst entwöhnt, Florine. Und wir haben hier nichts für ihn.«
    »Ja, natürlich, Milch! Du hast recht«, rief Mathias. »Ich geh welche holen!«
    »Bist du verrückt geworden? Da draußen holst du dir nur die Pest!«
    »Ich pass schon auf und halt mir etwas vor den Mund. Die Männer, die die Leichen entsorgen, machen es doch auch nicht anders?«
    »Und genau denen wirst du in die Arme laufen!«, sagte Alix. »Sie greifen dich auf und werfen dich auf ihren Karren. Und dann sehen wir dich nie wieder. Wenn du gehst, kommst du nicht wieder zurück, Mathias.«
    »Doch, ich schaffe es.«
    »Bitte geh nicht, Mathias, ich flehe dich an!«, rief Alix, die es nun auch mit der Angst zu tun bekam. »Sieh doch! Nicolas hat aufgehört zu weinen. Wir könnten ein Püree aus Trockenfrüchten und Wasser kochen. Vielleicht macht ihn das satt?«
    »Nein, dann verhungert mein Kind!«, schrie jetzt Florine. »Bitte, Mathias, tu’s für mich! Geh und hol Milch für den Kleinen.«
    Florine brüllte beinahe, und alle waren äußerst erregt. Da entschied sich Mathias, ohne noch länger auf die Zustimmung der anderen zu warten, die Werkstatt zu verlassen. Nur Julio sah
ihm aus einem Fenster im Nebenraum zu, wie er aus dem Haus ging.
    Er nahm den Hinterausgang, drückte sich an die Hauswände und wählte einen Weg, auf dem er hoffentlich weder den Stadtarbeitern noch den Soldaten, die durch die Straßen patrouillierten, und auch nicht den Totenkarren begegnen würde. Nach wenigen Metern wurde ihm aber klar, dass er gar nicht wusste, wohin er eigentlich gehen sollte. Er blieb stehen, überlegte und zog das dicke Tuch fester über Nase und Mund, das er im Gehen mitgenommen hatte.
    Plötzlich fiel ihm ein, dass er zu »mère cornue« gehen könnte; die hieß so, weil sie einen imposanten alten Ziegenbock und ein Dutzend Ziegen hatte, deren Milch sie jeden Tag auf dem Markt verkaufte. Florine hatte schon oft bei ihr eingekauft. Wenn sie nicht auch vor der Pest geflohen war, müsste er sie eigentlich finden. Jedenfalls würde sie sich gewiss nie freiwillig von ihren Ziegen trennen, ihrem einzigen Lebensunterhalt. Das machte ihn etwas zuversichtlicher, und auf leisen Sohlen lief Mathias durch das Gassengewirr von Tours erst um die Kirche Saint-Pierre herum und dann Richtung Foire-le-Roi und von dort in die Grand-Rue, die zur Kirche Saint-Saturnin führte. Wenn nichts dazwischenkam, war er schon bald im Quartier Saint-Denis, wo »mère cornue« wohnte. Als er dann endlich vor ihrer Tür stand, merkte er plötzlich, wie naiv er gewesen war zu glauben, es würde schon alles gut gehen. Hinter sich hörte er nämlich plötzlich einen lauten, hässlichen, dumpfen Schlag. Am ganzen Körper zitternd drehte er sich vorsichtig um. Noch nie im Leben hatte er solche Angst gehabt.
    Jemand hatte einen Leichnam aus einem Fenster über ihm geworfen, der direkt neben ihm aufgeschlagen und zerschmettert war. Und dieser Leichnam holte ihn wieder auf den Boden der
trostlosen Tatsachen zurück. Ein armseliger Körper, schrecklich anzusehen und nur zum Teil von einem Nachthemd bedeckt, das ihm beim Sturz auf das Pflaster über den Bauch gerutscht war. Nur an seinem verkümmerten, schlaffen Glied erkannte Mathias, dass es ein Mann war. Seine Panik nahm noch zu, als hinter ihm ein Wachmann, den er nicht hatte kommen hören, rief:
    »Werft eure Toten aus

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