Die Seidenstickerin
wieder entkommen werde. Die Liebe verleiht nämlich Flügel, und diese Flügel trage ich an meinem Rücken.«
Martin Cassex wirkte verstört, wagte seinem Freund Pierre aber nicht zu widersprechen. Hatte Coëtivy Cassex in der Hand? Davon war sie überzeugt, als er sie zwar ansah, aber nicht mehr darüber erfahren wollte. Da fühlte sie sich auf einmal einsam und verlassen und ging müde zu der Treppe, die in den oberen Stock führte.
Alix und Florine unterhielten sich flüsternd in dem großen Bett, in dem auch die beiden anderen Frauen schliefen. Sie waren ganz nah zusammengerückt, um ihre Bettgenossinnen nicht zu wecken.
»Er wird dir bestimmt nichts tun, Alix.«
»Du kennst ihn nicht, Florine. Er versucht es immer wieder.«
»Du hast aber doch diesem Weber aus Brügge alles erzählt. Der muss dir doch jetzt helfen.«
»Ich fürchte, dass er bei Coëtivy irgendwie in der Schuld steht und sich nichts erlauben kann, was gegen dessen Interessen verstößt. Das habe ich deutlich gespürt.«
»Ich glaube eher, dass du ihn überzeugt hast, Alix, und dass Coëtivy die ganze Sache ziemlich peinlich ist.«
Mit einer ärgerlichen Handbewegung rief sie die eine Bettnachbarin zur Ruhe, während die andere sagte:
»Schlaft jetzt endlich, Mädchen, morgen ist wieder ein langer Tag.«
Aber es wurde Morgen, ohne dass Alix ein Auge zugemacht hätte. Als sie hinuntergingen, war der Speiseraum der Herberge bereits wieder gut gefüllt. Der Wirt versorgte noch die letzten Gäste, während die ersten schon aufbruchbereit waren und zu ihren Wagen oder Pferden gingen, die ihnen die Stallknechte brachten.
»Da ist sie ja!«, rief der Gastwirt, als er Alix sah, und deutete mit dem Finger auf sie.
Und dann ging alles so schnell, dass sie sich gar nicht erst wehren konnte. Vier kräftige Arme packten sie und hielten sie fest.
»Du hast wohl gedacht, du könntest dich davonschleichen, du kleine Diebin!«, brüllte der Wirt und schüttelte Alix, während sie die anderen beiden Männer festhielten, damit sie nicht weglaufen konnte.
»Lasst sie sofort los!«, rief Florine. »Was wollt Ihr denn von ihr?«
»Was wir von ihr wollen, fragst du noch«, schrie Pierre de Coëtivy und schwenkte einen Packen Papier in der Luft.
»Das hier haben wir auf ihrem Muli gefunden«, sagte er und fuchtelte mit den Pergamenten vor Alix’ Nase herum.
Und dann breitete er vor ihren verblüfften Augen einen Stapel Papiere aus, lauter Skizzen, Zeichnungen und Aquarelle.
»Was ist denn das?«, fragte Alix erschrocken.
»Was das ist? Das sind die Bilder, die du Meister Dürer gestohlen hast.«
Der Maler stand etwas abseits und wirkte sehr verlegen. Weitaus unwohler noch schien sich aber Martin Cassex zu fühlen, der unruhig auf und ab lief. Mal sah er Alix an, ohne ein Wort zu sagen, dann wieder warf er seinem Freund Pierre einen Blick zu, gab aber nicht zu, dass er ihm nicht glaubte. Was sollte er nur tun? Er schenkte diesem Mädchen Glauben. Immerhin hatte sie Tatsachen erwähnt, die keine noch so gut informierte Intrigantin hätte wissen können.
»Ich habe diese Bilder nicht gestohlen!«, rief Alix verzweifelt.
»Doch, das hast du wohl!«
»Nein, das ist nicht wahr!«
Martin wirkte zunehmend gequält, sagte aber noch immer nichts.
»Sie hat schon meinem Freund Yann, einem Stickermeister in Nantes, Entwürfe gestohlen, um sie meinem Vorarbeiter Gauthier in Tours zu verkaufen.«
»Das waren unbrauchbare alte Kartons, die keiner mehr wollte. Ich habe sie nur genommen, weil ich etwas brauchte, womit ich in Eure Werkstatt gelangen konnte, um Jacquou zu sehen.«
»Ruft die Gendarmen, Wirt«, beendete Coëtivy die Debatte. »Sie muss hinter Schloss und Riegel.«
Charles VI. hatte nämlich nach dem Hundertjährigen Krieg in ganz Frankreich Gendarmeriegarnisonen eingerichtet, die nicht unbedingt mit Soldaten, sondern auch mit vom Staat bezahlten Bürgern besetzt waren und für Recht und Ordnung in Stadt und Land sorgen sollten; und die Gastwirte wandten sich an sie, wenn ihnen etwas nicht geheuer vorkam.
»Nein!«, schrie Alix und schlug verzweifelt um sich. »Hört doch endlich auf, mich langsam zu Tode zu quälen, Meister Coëtivy! Seht Ihr denn nicht, dass ich nur eins im Sinn habe? Ich will mit Jacquou zusammen sein!«
»Ist das wirklich Jacquous Frau, die Frau von Eurem Sohn, Pierre?«, fragte Martin schließlich.
»Ja doch, der arme Kerl ist ihr in die Falle gegangen.«
»Das nennt Ihr in die Falle gegangen!«, tobte Alix. »Dass
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