Die Seidenstickerin
hatte.
Florine war natürlich nicht so wild, widerspenstig und streitbar wie manche anderen Mädchen, die sich vielleicht irgendetwas ausgedacht hätten, um ihre Freundin zu befreien. Dafür war sie aber sehr zuverlässig und kam Alix auch jeden Tag besuchen, weil sie ihre Freundin nie im Stich gelassen hätte.
Alix war nun schon zehn Tage in dem Gefängnis in der Nähe der Porte de la Barre, am Ufer der Deûle, eingesperrt. Um sie zu besuchen, musste Florine fast durch die ganze Stadt. Von der Porte Saint-Maurice musste sie erst in das Viertel Saint-Etienne in der Stadtmitte, dann die ganze Avenue hinunter, die zum Rathaus führte, und schließlich durch die Porte Notre-Dame in das Stadtviertel de la Barre.
Von Florine hatte Alix erfahren, dass die Tuchhändler inzwischen nach Tournai und Audenarde aufgebrochen waren; Coëtivy, Martin und Dürer hielten sich jedoch noch als Gäste des Statthalters in Lille auf.
Ohne Florines regelmäßige, aufmunternde Besuche, bei denen sie Alix Obst, Weißbrot, Honig oder Rhabarberkompott mitbrachte, wäre ihre Freundin vermutlich längst vollkommen trübsinnig geworden und in düsterste Gedanken versunken.
Eines Tages – es war der dreizehnte in Gefangenschaft, was für sie eine Glückszahl bedeutete – kündigte ihr der Wärter, der im Übrigen kein grausamer Mensch war, sondern eben einfach ein Gendarme, der sich an seine Befehle hielt, einen anderen Besuch an.
»Ich lass dich jetzt für ein paar Stunden frei«, sagte er und öffnete die Zelle, »ich darf dir aber nicht die Fußfesseln abnehmen.«
»Ihr lasst mich frei?«
»Nur für ein oder zwei Stunden. Die Person, die der Kläger ist, hat scheint’s das Recht, dich an einem Ort zu verhören, der besser geeignet ist für ein Geständnis.«
»Ich soll verhört werden!«
Aber noch ehe sie weiterfragen konnte, stand der Maler Dürer plötzlich vor ihr, dem sicher nicht entging, dass sie sich über seinen Besuch freute.
»Kommt mit, meine Liebe. Ehe ich die Stadt verlasse, wollte ich noch einmal mit Euch reden. Bei Eurer Verhaftung ging das leider nicht, weil mein Freund Coëtivy etwas dagegen gehabt hätte.«
»Ich kann aber leider sehr schlecht laufen«, klagte Alix und schleppte sich mühsam vorwärts. »Ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr nicht zu schnell gehen würdet. Wo wollt Ihr denn mit mir hin?«
»Es ist nicht weit. Auf meinen Wunsch hin hat man mir einen Raum in der Garnisonsunterkunft freigemacht.«
Weil die Fußfesseln sie sehr behinderten, stolperte Alix ständig und kam kaum vorwärts. Schließlich nahm sie Dürer einfach auf den Arm und trug sie in das kleine Zimmer im Hintergebäude.
Eigentlich war es eher ein einfacher Lehmverschlag als ein Zimmer, und augenscheinlich die Abstellkammer für die ganze Garnison. Es herrschte ein ziemliches Durcheinander aus Planen, Strohsäcken, Seilen, Pfählen, Äxten und einigen Lanzen, das Alix aber nicht beachtete. Jetzt kam alles darauf an, was sie diesem Mann sagte und vor allem was er ihr glauben würde.
Sie fühlte sich beinahe ein wenig erleichtert, weil sie nach so langer Zeit einmal ihre trostlose Zelle verlassen konnte. Der Maler hielt sie noch immer im Arm und stieß mit dem Fuß die Tür hinter sich zu.
Es gab nur ein kleines Fenster, und erst in dem Halbdunkel des Schuppens kam Alix wieder zur Besinnung. Als er sie absetzte, fiel sie unsanft auf den Boden, und die scharfkantigen Kiesel taten ihren nackten Füßen sehr weh.
Was hatte sie hier mit diesem Mann verloren, den sie gar nicht kannte? War das vielleicht eine neue Falle, die ihr Coëtivy stellen wollte?
Dürer sah sich in dem Verschlag um, entdeckte ein großes Stück Juteplane und breitete es aus, damit sich Alix daraufsetzen sollte. Dann hockte er sich vor sie hin, damit sie auf einer Höhe waren.
»Eure Aquarelle und Eure Zeichnungen sind sehr schön, Meister Dürer. Leider konnte ich sie nicht länger betrachten, weil ich sie nur so lange gesehen habe, wie Meister Coëtivy damit fuchsteufelswild vor meinen Augen rumgefuchtelt hat.«
»Soll das heißen, dass Ihr etwas davon versteht?«
»Meister Dürer, wenn irgendetwas wahr ist an den Lügengeschichten von Meister Coëtivy, dann dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass Jacquou und ich eine eigene Werkstatt bekommen, die wir als unabhängige, selbständige Meister führen können. Außerdem ist es wahr, dass ich eines Tages die Prüfung vor der Gilde ablegen möchte, weil ich eine richtige Weberin werden will.«
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