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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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gehört, dass sich zwei Händler unerwartet von unserem Zug trennen mussten, und ihre beiden Frauen, weil sie die Reise allein fortsetzen müssen, sich jetzt ein Zimmer teilen. In den Gasthäusern gibt es oft große Schlafzimmer für alleinreisende Frauen. Bestimmt könnt ihr sie fragen, ob ihr bei ihnen schlafen dürft. Das ist dann gar nicht teuer.«
    Also schliefen Alix und Florine in der Nacht darauf in einem Zimmer, das zwar nicht besonders groß war, aber über ein breites Bett verfügte, das sich die vier Frauen teilten. Damals war es nämlich durchaus üblich, dass man alleinreisende Frauen in ein und demselben Zimmer unterbrachte. Genauso kam es auch vor, dass ein Gastwirt aus Platzmangel zwei oder drei Männern, die ohne Frau unterwegs waren, ein Zimmer zusammen anbot, wo sie dann auch in einem gemeinsamen Bett schlafen mussten.
     
    Als Alix und Florine eines Tages in einem Gasthaus in Gesellschaft von Dame Franchoux, deren Mann und den zwei alleinreisenden Frauen zu Abend aßen, war es in der Gaststube so voll und laut, dass der Wirt vor lauter dampfenden Schüsseln, Tellern und Weinkrügen schon nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand.
    Durch den Rauch und den Suppendunst entdeckte Alix plötzlich den Mann, den sie zu vergessen versuchte, seit sie aus dem kleinen Haus an der Loire geflüchtet war.
    Sie zitterte am ganzen Körper und klammerte sich an den Tisch, auf dem ihre Schüssel mit der dampfenden Specksuppe vor ihr stand.
    Drei Männer waren hereingekommen. Meister Coëtivy, der größte und älteste von ihnen, redete und gestikulierte heftig. Er trug einen vornehmen Anzug aus Seidenbrokat, eine viereckige Mütze und ein pelzgefüttertes Wams samt Überrock, was ihm noch mehr selbstsicheres Auftreten verlieh, als er eigentlich nötig hatte.
    Der Mann hinter ihm war viel jünger als er. Er war blond und schmal, hatte hellblaue Augen und ein sehr schön geschnittenes Gesicht und bewegte sich wie ein schlaksiger Prinz.
    »Ich glaube, das ist der Maler Dürer«, sagte Dame Franchoux leise zu ihren Tischnachbarn. »Er arbeitet zusammen mit den beiden Webern, die ihn begleiten, an einem großen Auftrag.«
    Alix zitterte noch immer, und Coëtivy unterhielt sich weiter lebhaft mit dem Maler. Der zweite Weber, der wesentlich zurückhaltender wirkte, hielt sich etwas abseits, äußerte aber immer wieder mal seine Meinung, wenn ihm das angebracht schien. Vom Alter her musste er wohl zwischen seinen beiden Begleitern liegen, also etwa vierzig sein. Trotzdem machte er einen sehr lebendigen und wachen Eindruck und beobachtete alles um sich herum interessiert. Als Alix gerade aufstehen wollte, begegneten sich ihre Blicke.
    »Ich gehe auf mein Zimmer, Florine, lasst Euch nicht stören.«
    »Aber du hast ja noch gar nichts gegessen!«
    »Ja, sie hat Recht! Warum wollt Ihr denn schon nach oben?«, rief Dame Franchoux. »Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«
    »Ja, mir geht es nicht besonders gut. Ich möchte mich hinlegen.«
    Und dann tat die gute Frau genau das, was sie nicht hätte machen sollen: Sie rief mit lauter Stimme nach dem Wirt.
    »Ihr braucht einen kräftigen Kräutertee, damit Ihr schlafen könnt. Dann ist morgen alles wieder gut. He, Wirt, wir haben einen Wunsch!«
    Mit ihrer kräftigen Stimme übertönte sie den Lärm in der Gaststube, und natürlich drehten sich jetzt alle nach ihr und ihren Tischnachbarn um, so auch Meister Coëtivy. Er warf Alix einen zornigen Blick zu, und auch der andere Weber sah sie wieder interessiert an.
    Dann hörte sie wie durch einen Nebel jemanden am Nachbartisch sagen: »Das ist Meister Cassex. Er arbeitet mit den größten Teppichwebern von Brügge.«
    Jetzt stockte Alix das Blut in den Adern, ihre Hände flatterten, ihre Knie zitterten, und sie musste sich wieder setzen, weil ihr auf einmal schrecklich schwindlig war.
    »Was ist denn mit dir los?«, fragte Florine. »Du bist ja ganz blass, und deine Hände zittern.«
    »Stimmt!«, fand auch Dame Franchoux. »Sie zittert wie Espenlaub. He, Wirt! Wo bleibt Ihr denn? Wir brauchen Euch.«
    Alix war mittlerweile aschfahl und hatte ihnen überhaupt nicht zugehört. Cassex! Das war doch Jacquous Nachname. Der Name seiner Familie, die er nie kennen gelernt hatte. Der Familienname seiner Mutter! Sie hatte doch Léonore Cassex geheißen! Wenn das so war, dann musste Coëtivy diesen Mann gut kennen. Wahrscheinlich waren sie sogar Freunde. Was sollte sie schon verlieren, wenn sie ihn ansprach? Schlimmer konnte es nicht mehr kommen.

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