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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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nahm er ihre Hand, die sie ihm widerstandslos überließ. »Ich bin keine Diebin, Meister Dürer. Dieser Martin Cassex, der Jacquous Onkel ist und sich sehr wahrscheinlich für ihn einsetzt, hätte das eigentlich spüren müssen.«
    »Martin ist mehr oder weniger auf das Wohlwollen seines Gönners angewiesen.«
    »Seines Gönners?«
    »Es heißt, dass Martin nach dem Tod seines Bruders, der nach dem Tod des Vaters die Geschäfte übernommen hatte, beträchtliche Schulden gemacht haben soll, die Pierre innerhalb weniger Monate getilgt hat.«
    Alix versuchte ihre Beine auszustrecken. Ach, diese verdammten Ketten, die ihre Knöchel wund scheuerten! Vorsichtig versuchte sie ihre Hand zurückzuziehen, die der Maler zärtlich zu streicheln begonnen hatte.
    »Wollt Ihr mich nicht endlich befreien?«
    »Ich weiß ja noch immer nicht, ob ich die Geschichte von meinem Freund Coëtivy glauben soll«, sagte er und bemerkte, dass der Freudenschimmer aus ihren Augen verschwunden war, auch wenn er in dem Halbdunkel den Grund dafür nicht erkennen konnte.
    »Ihr solltet sie nicht glauben, Meister Dürer«, antwortete Alix ganz ruhig.
    »Und warum nicht?«
    »Weil das die Geschichte von einem viel zu ehrgeizigen Vater ist, der seinen Sohn mit der Tochter einer mächtigen und reichen Familie verheiraten wollte, wodurch er gesellschaftlich aufgestiegen wäre. Und Jacquou hat diesen Traum zerstört.«
    »Jacquou! Immer nur Jacquou! Ich werde noch ganz eifersüchtig.«
    »Ich liebe aber nur ihn.«
    »Das habt Ihr bereits oft genug gesagt.«
    Sie schwieg und fühlte sich auf einmal schrecklich verzweifelt.
    »Ich sorge dafür, dass Ihr freigelassen werdet – aber unter einer Bedingung.«
    »Unter welcher?«, fragte Alix tonlos.
    »Ich will Euch einmal lieben.«
    »Auf keinen Fall.«
    »Euer Jacquou erfährt nichts davon.«
    »Auf keinen Fall«, wiederholte sie unbeugsam.
    Er nahm wieder ihre Hand.
    »Wisst Ihr eigentlich, was passiert, wenn ich abreise, ohne Euch zu helfen? Coëtivy lässt Euch hier verrotten, bis irgendwann ein Urteil gesprochen wird.«
    »Wozu kann man mich denn verurteilen?«
    »Wenn niemand für Euch aussagt, könntet Ihr im schlimmsten Fall gehängt werden. Das ist die Strafe für Diebstahl.«
    »Warum wollt Ihr denn so ein schreckliches Lösegeld von mir? Kann ich nicht irgendetwas anderes dafür tun?«
    »Ich weiß jetzt, dass Pierre gelogen hat. Ihr seid weder eine Diebin, noch eine Intrigantin. Sonst hätte Euch mein Ansinnen in Begeisterung versetzt, und Ihr hättet mir längst Eure verborgenen Reize offenbart.«
    »Ich bitte Euch, verlangt etwas anderes von mir. Ich kann Jacquou nicht betrügen.«
    Er hielt noch immer ihre Hand und schüttelte nur heftig den Kopf.
    »Ihr seid jung und schön, Meister Dürer. Bestimmt kommen die hübschesten Frauen als Modelle in Eure Ateliers; Frauen, die genau Euren Wünschen entsprechen. Was habt Ihr denn von so einem flüchtigen lustvollen Moment, wenn ich ihn nicht mit Euch teile?«
    »Eure eindeutige Ablehnung ist es ja gerade, die mich so erregt.«
    »Nein!«
    Aber er kam näher, sein Gesicht berührte das ihre, und er küsste Alix mit seinen warmen, gierigen Lippen auf den Mund. Sie zog sich nicht zurück und erbebte, aber nicht vor Vergnügen, sondern vor Überraschung. Kein anderer als Jacquou hatte sie bisher geküsst – wenn man mal von Coëtivys hasserfülltem Versuch absah, mit dem er ihren Widerstand brechen wollte. Der Maler wollte sie nicht erniedrigen oder verderben, sondern ganz im Gegenteil befreien. Aber warum wollte er ihr gegen ihren Willen diesen Akt aufzuzwingen?
    Sie versuchte fieberhaft nachzudenken. Sollte sie das Risiko eingehen, auf dem Marktplatz von Lille für einen Diebstahl gehenkt zu werden, den sie gar nicht begangen hatte? Sollte sie sterben, ohne Jacquou wiedergesehen zu haben? Ohne der Gilde eine Meisterarbeit vorzulegen und eine richtige Weberin zu werden?
    Ihre Hände zitterten, und sie schwitzte vor Aufregung.
    »Lasst mir wenigstens erst die Fußfesseln abnehmen. Ich halte es nicht mehr aus! Damit fühle ich mich noch mehr ausgeliefert und schäme mich so.«
    Alix rührte sich nicht, aber sie zitterte auch nicht mehr. Eine Träne lief ihr übers Gesicht. Dürer trank sie, suchte wieder ihren Mund, ihre Zunge und küsste sie noch leidenschaftlicher.
    »Bitte lasst mich frei.«
    Er sah sie lange an. Küsste er sie noch einmal. Schließlich erhob er sich ohne ein Wort, nahm sie wieder auf den Arm und trug sie zu dem Gefängniswärter,

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