Die Seidenstickerin
und sagte: »Schnell! Ich glaube, Dame Marguerite ist eingeschlafen. Komm schnell!«
Die kleine Holztreppe zum oberen Stockwerk knarzte unter ihren Schritten, obwohl sie sich ganz langsam bewegten, um möglichst wenig Geräusche zu machen. Bei jeder Stufe fürchtete Jacquou, Dame Marguerite könnte mit ihrer Schlafmütze auf dem Kopf auftauchen. Deshalb ließ er Alix auch vorgehen für den Fall, dass ihn seine Vermieterin unten an der Treppe abpassen sollte.
Er hatte sich sogar eine Ausrede ausgedacht, um ein mögliches Misstrauen seiner Zimmerfrau zu zerstreuen. Er wollte behaupten, Meister Gauthier hätte ihm eine eilige Lieferung aufgetragen, die er bis morgen früh erledigen müsse und dass er vergessen hätte, Arnold davon zu erzählen.
Aber Dame Marguerite schien tief und fest zu schlafen. Und als sie endlich die Tür hinter sich geschlossen hatten, sah Alix, dass Jacquou Tränen in den Augen hatte.
»Ach, mein lieber Jacquou, weißt du, wie sehr ich dich liebe und wie glücklich ich bin?«, sagte sie leise. »Der Abend heute, den ich in deinen Armen verbringen werde, ist der schönste meines Lebens. Endlich lernen wir uns richtig kennen, entdecken und lieben.«
»Ja, endlich können wir uns lieben!«
Sie bebte vor Erregung, als er sie behutsam auf sein Bett legte. Wie viele unbeholfene Gesten, abgehackte Worte, linkische und doch so viel versprechende Versuche! Wie viele Träume und Hoffnungen erzählten sie sich an diesem Abend, an dem endlich alles für sie begann. Eine ganze Nacht! Sie hatten eine ganze Nacht, um sich zu lieben, ohne so recht zu wissen, was der nächste Tag bringen würde.
Alix ließ sich unter tiefen, ungeduldigen Liebesseufzern ausziehen, und Jacquou wusste weder, wie er mit seiner Leidenschaft umgehen sollte, noch, wohin sie ihn führen würde. Er hatte noch nie ein Mädchen geliebt – der sanfte, einfühlsame Jacquou. Wie denn auch mit einem Meister wie Pierre de Coëtivy, der nur von Arbeit, Moral und beruflichem Erfolg zu ihm sprach und eine unvermeidliche Heirat auf später verschob, ihm aber zu verstehen gab, dass es sich dabei um eine gesellschaftliche, eheliche und familiäre Verpflichtung handelte, bei der Gefühle keinerlei Rolle spielten.
Und Alix konnte nichts erschrecken, was sie an diesem Abend lernte – all diese Offenbarungen einer hemmungslosen Leidenschaft, von der sie schon so lange geträumt hatte. Es machte kaum etwas aus, dass sie noch so jung und unerfahren war.
Schweigend verschmolzen sie miteinander. Nur ihre Herzen klopften laut. Jacquou entdeckte den Zauber eines erblühenden nackten Mädchenkörpers, und Alix erfuhr alles über die Geheimnisse des männlichen Körpers. Ihre Haut, ihr Fleisch, ihre ganze gemeinsame Lust schienen das schwache Licht der kleinen Lampe zu verschlucken, die neben ihnen leuchtete. Ein Blick von Jacquou, ein Wort, eine beruhigende Geste hatten genügt, um ihr auch noch die letzte kleine Furcht zu nehmen, die sie kurz vor ihrer Entjungferung verspürt hatte. Jetzt zitterte Alix nur noch vor Vergnügen.
10
Seit drei Wochen entdeckten sie nun schon die Freuden der Liebe, und die Zeit verging wie im Flug. Ganz allmählich ließ auch die extreme Kälte dieses Winters nach. Alix und Jacquou rechneten zwar jeden Morgen, sobald die Sonne an dem blauen Himmel aufging, mit dem Erscheinen von Meister Coëtivy mit seiner zornigen Unnachgiebigkeit, die durch nichts zu besänftigen war. Gleichzeitig waren sie aber froh über diesen Aufschub, weil sie sich sagten, dass ihnen jeder zusätzliche Tag weiteres Glück schenkte.
Nur etwa einen Monat später, als Alix allmählich die Grundkenntnisse ihres neuen Berufs beherrschte, kündigte sich das Versprechen des Hochwürden Jean de Villiers unter sehr seltsamen und alles andere als viel versprechenden Umständen bei ihr an. Keinen Abend schlief sie ein, ohne zuvor an die beruhigenden Worte des Prälaten zu denken, der jedoch seinerseits die Zustimmung aus Rom für ihre Heirat mit Jacquou abwarten musste.
Als sie dann eines Abends die Werkstatt verließ, um schnell zu Arnaude zum Abendessen zu gehen und sich anschließend in Jacquous Zimmer zu schleichen, wurde sie plötzlich von vier kräftigen Händen gepackt und in eine dunkle Ecke gezerrt.
Gegen diesen gewalttätigen Überfall konnte sie sich einzig mit einem schwachen Wimmern zur Wehr setzen; der laute Schrei, den sie ausstoßen wollte, wurde nämlich schnell erstickt.
Bei der Aufregung und dem Lärm, die damit einhergingen,
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