Die Seidenstickerin
merkte sie nur, dass sie – ohne unnötige Gewaltanwendung – geknebelt und in eine sehr elegante Kutsche verfrachtet wurde, die ein Kutscher mit wilder roter Mähne lenkte. Und diese wilde Mähne hatte sie gerade noch erkennen können, weil man sie weder betäubt noch ihr weitere Gewalt angetan hatte. Alix war also bei vollem Bewusstsein, nur schreien konnte sie nicht.
Sie erkannte die flammendrote Mähne des Hünen, der die beiden Pferde lenkte, jedoch wusste sie nicht, woher. Sie wollte sich wehren und es herausschreien, doch aus ihrer Kehle kam kein einziger Ton, weil ihr Mund geknebelt war. In ihrem Kopf entstand ein wilder Tumult, als sie ahnte, wer der Mann sein könnte, und Überraschung und Freude traten ganz unvermittelt an die Stelle der Angst, die sie eben noch verspürt hatte.
Vier Hände hoben sie hoch, ohne ihr wehzutun, aber doch so bestimmt, dass sie ihrem starken Griff nicht entkommen konnte.
Und ohne recht zu wissen, ob die Freude über die Ungewissheit siegen würde, saß sie plötzlich auf der Bank in der Kutsche, die mit karmesinrotem Samt bezogen war. Sie setzte sich auf, und die vier Hände ließen sie los.
»Ich bedaure unendlich, dass ich auf diese etwas groben Mittel zurückgreifen musste, Alix, aber etwas anderes blieb mir nicht übrig, wenn ich kein Aufsehen erregen wollte.«
»Monseigneur Jean!«, rief Alix mit Tränen der Freude in den Augen. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie ich diesen Augenblick herbeigesehnt habe! Ich hatte solche Angst, Meister Coëtivy könnte vor Euch zurückkommen. Dann wäre ich wahrscheinlich wieder in der Werkstatt von Meister Yann gelandet, wenn man mich nicht gleich wieder in das Kloster der Barmherzigen Schwestern gesteckt hätte.«
»Aus dem Kloster hätte ich dich jedenfalls leichter holen können als aus der Werkstatt deines Stickermeisters. Aber selbst aus der hätte ich dich befreit.«
»Von Meister Yann!«
»Natürlich«, sagte Jean und lächelte verschmitzt. »Aber keine Angst, dazu hätte es gar nicht kommen können, weil ich einen Mann beauftragt hatte, mich über alles auf dem Laufenden zu halten. Wenn man dich auf einen anderen Befehl als meinen eigenen weggeholt hätte, hätten meine Männer sofort eingegriffen. Du weißt doch, ich bin sehr einflussreich.«
»Ach, Monseigneur Jean, darf ich Euch zum Dank küssen?«
»Aber ja.«
Jean neigte seinen Kopf ein wenig, und Alix kam ihm mutig, aber auch ein wenig verschämt entgegen. Gott, hatte er schöne dunkle Augen! Als sich nun ein kleiner goldener Schimmer hineinschlich, lag das daran, dass er diesen köstlichen, aber flüchtigen Moment sehr genoss. Die zärtlichen, weichen Lippen von Alix auf seiner ein wenig rauen Wange – seit der Abreise aus Amboise hatte er seine Toilette vernachlässigt – war einer dieser edlen und aufrichtigen Momente, denen er große Bedeutung beimaß.
»Ich habe sehr gute Neuigkeiten für dich, mein Kind«, sagte er und nahm ihre Hand. »Endlich habe ich den Dispens aus Rom, Meister Coëtivy betreffend, erhalten. Darin wird bestimmt, dass er Jacquou, außer was seine berufliche Ausbildung angeht, nichts mehr vorzuschreiben hat, weil er nur sein Lehrmeister ist und ihn nie als seinen Sohn anerkannt hat.«
»Das ist ja wunderbar!«, rief Alix begeistert. »Verheiratet Ihr uns jetzt, Monseigneur Jean?«
»Ja, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen.«
»Welchen denn?«
»Es muss eine geheime Eheschließung sein. Ich will auf keinen Fall wegen eurer unvernünftigen Liebesgeschichte, die ich nicht einmal voll und ganz unterstützen kann, Jacquous berufliche Laufbahn zerstören.«
»Was würde sie denn aufs Spiel setzen?«
»Falls Meister Coëtivy erfahren sollte, dass sein Sohn heimlich geheiratet hat, dazu noch ein armes Waisenmädchen, das er bereits mehrfach aus dem Weg räumen lassen wollte, ist es mehr als wahrscheinlich, dass er darüber schrecklich erzürnt sein dürfte.«
»Aber das wird er doch nur mir übelnehmen«, widersprach Alix. »Jacquou bestraft er bestimmt nicht.«
»Ich glaube nicht, dass es sich so verhält.«
»Glaubt Ihr etwa … Glaubt Ihr, er würde Jacquou auf die Straße setzen?«
»Das ist anzunehmen, weil er zutiefst in seinem Stolz verletzt wäre. Vielleicht würde er sogar alles daransetzen, dass Jacquou seinen Lebensunterhalt nicht mehr verdienen könnte.«
»Aber das ist doch ganz unmöglich!«
»Meine liebe kleine Alix. Hier unten ist alles möglich, alles. Merk dir das gut. Die Welt ist grausam,
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