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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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wie ein Blitz! Gott, war Jacquou schön! Und groß! Und sein liebenswürdiges Lächeln zierte ihn wie einen anderen vielleicht sein Prinzengewand.
    »Lass die ›Dame von Rohan‹ jetzt mal sein. Ich habe hier eine kleinere Vorlage, die kein Problem für dich sein dürfte. Wenn du damit zurechtkommst, kannst du mit dem endgültigen Karton arbeiten.«
    Er beugte sich zu ihr und sagte ganz leise:
    »Ich komme heute zum Abendessen zu Arnold.«
    Und dann wieder lauter:
    »Komm mal mit, ich will dir etwas zeigen.«
    Er nahm Alix am Arm, und sie gingen auf den Hof. In der Mitte waren lange Tische aufgestellt, so dass man bequem darum herumgehen konnte. Drei Lehrlinge, zwei Mädchen und ein Junge, maßen hier die Leinwandstücke, ordneten die Kartons, sortierten die Leinen- und die Wollfäden nach Farben, trennten sie, rollten sie auf oder verknoteten sie, je nachdem, wozu sie gedacht waren.
    Der Boden war voll von unbrauchbarer Wolle, die die Lehrlinge einfach fallen ließen, wenn sie sie in die Hand bekamen. Es war zu wenig entfettete oder schlecht gefärbte Ware. In der Werkstatt von Meister Coëtivy, die Meister Gauthier führte, wurde nur beste Wolle aus Spanien verarbeitet, die fast ausschließlich in Lyon gesponnen wurde. Das gehörte zu den unverrückbaren Prinzipien, genauso wie jedes Teil, egal ob groß oder klein, aus einem einzigen Stück gewebt wurde.
    Im Vorübergehen sah Alix sorgfältig aufeinandergestapelte Gebinde von Seidenfäden. Sie suchte nach den Goldfäden, aber da waren sie schon wieder weiter, ehe sie ihr scharfes Auge hätte entdecken können.
    Die Lehrlinge warfen alle einen neugierigen Blick auf die neue Angestellte, vertieften sich dann aber wieder in ihre Arbeit, als sie sahen, dass sie sich nicht bei ihnen aufhielt.
    Jacquou führte sie jetzt in den großen Raum, der an die Werkstatt angebaut war, und in dem vier Arbeiter beschäftigt waren. Mit der Hand zeigte er ihr den einzigen Webstuhl von beeindruckenden Ausmaßen, der beinahe die Hälfte des gesamten Raums für sich beanspruchte. Zwei Arbeiter betätigten einen Hebel, der die Litzen bewegte, während zwei weitere vor dem Rahmen, in dem die Kettenfäden vertikal gespannt waren, jeder an einer Fläche von etwa zwei Metern arbeiteten, wobei sie sich an dem Originalkarton orientierten. Alix spürte, dass sie wieder beobachtet wurde, tat deshalb so, als würde sie keinen sehen und konzentrierte sich ganz auf das, was Jacquou ihr sagte.
    »Das hier ist ein vertikaler Webstuhl für hochschäftige Teppiche, während der, an dem du arbeitest, ein wagrechter Webstuhl für tiefschäftige Teppiche ist.«
    Alix bedeutete ihm mit einem Nicken, dass sie verstanden hatte und den Unterschied kannte.
    »Ich weiß, beim hochschäftigen Weben werden die Zeichnungen auf die Kettenfäden übertragen, wodurch dem Arbeiter eine gewisse Interpretationsfreiheit bleibt.«
    »Ausgezeichnet, mein Kind. Wo hast du das gelernt?«, mischte sich Gauthier ein.
    »Ich weiß es einfach.«
    Meister Gauthier sah seine neue Arbeiterin erstaunt an, fragte aber nicht weiter nach.
    »Ein guter Weber muss seine Muster und das Gewebe gleichzeitig herstellen. Jacquou kann dir das wahrscheinlich besser erklären als ich. Bitte, Jacquou.«
    Meister Gauthiers Anwesenheit machte Jacquou ein wenig verlegen; außerdem war er überzeugt, Gauthier hätte bemerkt, dass er sich Alix gegenüber ungewöhnlich benahm, weshalb er kurz zögerte; dafür sagte das junge Mädchen schnell:
    »Außerdem weiß ich, dass der Karton immer auf der Rückseite befestigt wird, Meister Gauthier.«
    »Sehr gut! Ausgezeichnet! Jacquou, geh und zeig ihr die Kartonmacher.«
    Sie arbeiteten zu zweit an kleinen Bildern mit erdachten Motiven. Diese Art von Bildteppichen wurde vorwiegend für weniger vornehme Herren oder reiche Bürger gefertigt, die sich in den Augen einer Gesellschaft aufwerten wollten, in die sie aufzusteigen hofften. Deshalb handelte es sich auch meistens um Alltagsszenen aus dem Schlossleben, auf denen die Betreffenden in ihren Prunkgewändern dargestellt waren.
    Hauptaufgabe der damaligen Teppichweberei war es, großartige Dekorationen zu liefern und die weitläufigen, kalten Räume mit Leben zu erfüllen; darüber hinaus sollten sie aber die Räume auch wärmen, indem sie die nackten Wände in voller Höhe und oft auch über die gesamte Länge bedeckten.
    Ein weiterer wichtiger Grund für die Anfertigung dieser Kunstwerke, die tatsächlich in erheblichem Umfang von Königen, Königinnen und

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