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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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zitterten.
    Sollte sie nun zeigen, was sie konnte? Jacquou kam zu ihr.
    »Psst!«, sagte sie leise, »wir kennen uns nicht.«
    Diese wenigen Worte schienen ihn irgendwie zu beruhigen, und Alix sah, dass seine Hände ruhiger wurden und wieder zu der Kette des Webstuhls zurückkehrten.
    »Du bist hier nicht in einer Stickereiwerkstatt. Du musst also auf der Rückseite des Gewebes arbeiten.«
    Und als er sie jetzt ansah, merkte Jacquou, dass sie auf einmal ihr ganzes Selbstvertrauen verloren hatte. In ihren Augen las er die große Sorge, die Arbeit, die man ihr zugeteilt hatte, nicht bewältigen zu können.
    »Mach es einfach genau, wie ich dir sage, dann kann nichts schiefgehen«, flüsterte er ihr jetzt zu.
    Sie warf einen Blick zu den beiden Arbeiterinnen, die ihren Platz in der Mitte der Werkstatt hatten, und sah dann wieder auf das kleine Tapisseriequadrat vor sich, das vermutlich ein Kartonmacher aus der Gegend gezeichnet hatte, weil es ihr so vorkam, als wären die Motive leicht auszuführen, obwohl sie überhaupt nicht wusste, wie das ging.
    Als sie sich nun wieder über ihre Arbeit beugte, bemerkte sie, dass sie die Kontur der Skizze mit beinahe kabbalistischen Zeichen, die sie nicht entschlüsseln konnte, zu verhöhnen schien. Was ihr eben noch einfach vorgekommen war, erschien ihr nun auf einmal unmöglich.
    Sie warf einen Blick auf Aliette, die etwa in ihrem Alter sein musste. Vielleicht war sie auch zwei oder drei Jahre älter als sie; da man Alix aber für mindestens achtzehn hielt, musste die junge Arbeiterin ungefähr zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt sein.
    Aliette war eine rundliche Person. Sie trug ein grünes Samtkleid, dessen weite Ärmel jedes Mal durch die Luft wirbelten, wenn sie den Faden durch die Kette schoss. Wie alle Frauen in der Werkstatt hatte auch sie eine graue Leinenschürze übergezogen.
    Ihre Bewegungen wurden immer schneller und eifriger. An den beiden Seiten ihres gestärkten Leinenhäubchens waren zwei bestickte Bänder befestigt, die ihr Gesicht zur Hälfte verdeckten. Alix konnte nur ihre rosige, runde Nase sehen, die sie immer in ihre Arbeit tauchte, wenn sie den Kopf vorstreckte, um besser zu erkennen, bei welchem Stich sie gerade war.
    Als sie merkte, dass Alix sie beobachtete, warf sie ihr kurz einen nicht besonders freundlichen Blick zu und stand sogar auf, um ihr ins Ohr zu flüstern:
    »Wenn du nicht schneller arbeitest, bleibst du nicht lange bei uns. Dann wirft dich Meister Gauthier wie ein Bündel dreckiger Wäsche vor die Tür. Hab ich Recht, Jacquou?«
    Und dann warf sie »ihrem« Jacquou einen herausfordernd zärtlichen Blick zu, für den sie von Alix mit einem ebenso mörderischen bedacht wurde. Alix überlegte kurz und beschloss dann, nichts zu entgegnen, weil sie keine Aufmerksamkeit erregen wollte; sie vertiefte sich in ihre Arbeit. Aber sie schwor sich, dieser frechen Person bei Gelegenheit den Kopf zurechtzurücken.
    Sie wandte den Blick nicht mehr von ihrer Arbeit, auch wenn sie überzeugt war, dass es ihr neuen Mut schenken würde, den großen Wandteppich an der Rückwand der Werkstatt anzuschauen. Sie verwarf diesen Gedanken aber wieder, obwohl ihr einfiel, dass sie die wunderschöne »Jagd auf das Einhorn« sofort bemerkt hatte, für die Meister Coëtivy persönlich den Karton angefertigt hatte und an der Landry und Thibauld arbeiteten.
    Die Farben und Formen bildeten eine schillernde Einheit vor dem Hintergrund aus Mille Fleurs, die wie ebenso viele kleine blaue und rote Schmetterlinge über die riesengroße gespannte Leinwand flatterten.
    Alix war von dem Wandteppich so begeistert, dass sie ihn einfach ansehen musste, als sie die Werkstatt betrat. Und so hatte sie sich sofort von dem Zauber einfangen lassen, der von diesem Stoff ausging und sie begreifen ließ, was sie da eigentlich gerade machte.
    Allmählich entspannten sich Alix’ Züge, ihre schönen Lippen waren nicht mehr verkniffen, und ihre goldgesprenkelten grünen Augen funkelten wieder. Das kleine Quadrat, das man ihr gegeben hatte, gehörte zu dem großen Bild mit Namen »Die Dame von Rohan«. Diese vornehme Dame war in kostbare Gewänder aus Seide und Brokat gehüllt und schien ihr verschwörerische Blicke zuzuwerfen. Alix musste lächeln und setzte ihre Arbeit gut gelaunt fort.
    »Schau genau hin«, sagte Jacquou, der ihr zusah, »du darfst nicht vergessen, dass dein Bild gleichzeitig mit dem Gewebe entsteht.«
    Zum ersten Mal sah sie ihn an, und seine leuchtend blauen Augen trafen sie

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